Traumleben (2)

001Zhang Zhu träumte eines Nachts, er sei ein Schmetterling und flattere umher. Als er erwachte, war er wieder er selbst, doch er kam ins Grübeln. Bin ich nun, fragte sich der Denker, ich selbst, der träumt, ein Schnetterling zu sein — oder bin ich etwa der Schmetterling, der das Leben von Zhang Zhu träumt? Dieses Irrewerden an der Realität fand ich in dem Märchen aus der 24. von 1001 Nächten wieder. 

Nach seiner Hochzeitsnacht in Kairo lag Bedr ed-Dîn plötzlich an einem Stadttor im 600 Kilometer entfernten Damaskus, wo ihn die Dämonin niedergelegt hatte. Die Leute laufen zusammen, und er erzählt, gestern sei er in Basra gewesen, am Abend und in der Nacht in Kairo. Flugzeuge gab es nicht. Er habe wohl Haschich gegessen, meinte einer; er sei irre, ein anderer. »Da ward Hasan selbst an sich irre«, heißt es. Er hielt es nicht für einen Traum, aber Gegenbeweise hatte er auch nicht.

Gravierender war es zwölf Jahre später, als er wiederum sein Hochzeitsgemach betrat, das unverändert schien. Der Satz seiner Frau, er sei ja lange auf der Toilette geblieben, ist gar zu lustig … Man muss an die Männer denken, die (wie in neueren Mythen) Zigaretten holen gehen und nicht mehr zurückkehren. Sie bauen sich vielleicht woanders ein neues Leben auf, und sollten sie nach 20 Jahren den Heimweg finden, würde die Frau dann sagen: »Schatz, das Zigarettenholen hat aber lange gedauert!«? Noch länger war ja die Abwesenheit von Bran, hundert Jahre und mehr, doch im Jenseits gibt es keine Zeit; auch der Rip van Winkle in Washington Irvings Geschichte war eine Nacht beim Kegeln und in Wirklichkeit sieben Jahre fort (oder waren es zwanzig?). Diese Geschichten sind alle ähnlich, sie müssen einen wahren Kern haben.

Bedr ed-Dîn stöhnt: »Wahrlich, ich wandle in den Irrgängen von Träumen!« Seine Frau lacht und sagt, er sei im ersten Teil der Nacht anders gewesen, und er überlegt:

Du hast recht; doch als ich dich verlassen hatte, vergaß ich mich auf dem Abtritt, und ich träumte, ich sei Garkoch in Damaskus und wohne dort seit zehn Jahren … Bei Allah, ich muss am stillen Örtchen eingeschlafen sein und das alles im Traum erlebt haben.

Zum Verrücktwerden. In dem Theaterstück Das Leben ein Traum von Calderón de la Barca (1635 uraufgeführt) fürchtet der König von Polen, sein Sohn werde kein guter Herrscher werden, ein Tyrann. Er gibt ihm eine Chance, und tatsächlich führt sich der Sohn tyrannisch auf. Man kann ihn wieder überwältigen und ihm klarmachen, das sei nur ein Traum gewesen. Als Sigismund eine zweite Chance bekommt, hat er gelernt.

Bedr ed-Dîn kam die Szene, als er angeblich von der Toilette zurückkam, bekannt vor; es musste ihm erscheinen wie uns eine Déjà-vu-Erfahrung, die man besser Déjà-vécu-Erfahrung nennt: Das kenne ich, das habe ich bereits gelebt, was ist da los? Eine solche Erfahrung kennen viele Menschen. Der Engländer Anthony Peake vertrat in dem Buch The Labyrinth of Time die Ansicht, wir lebten unsere Existenz viele Male, mit leichten Veränderungen. Darum käme uns etwas verdammt bekannt vor. Vielleicht schreibe ich zum 206. Mal diesen Beitrag und meine irrigerweise, es sei das erste Mal. In der Zeitschleife gefangen. Friedrich Nietzsche glaubte an die ewige Wiederkehr. Zu finden ist das in meinem Buch Zeit und Bewusstsein.

Die Welt könnte zyklisch sein, könnte viele Male entstanden und wieder untergegangen sein, nur wissen wir es nicht. Dies alles soll uns nur sagen, dass das Leben viele Geheimnisse birgt, die wir eines Tages erkennen werden. Viele Verstorbene äußern, sie könnten sich kaum mehr an ihr vergangenes Erdenleben erinnern, es wirke auf sie wie ein Traum oder wie ein Comic-Heftchen. Wir hier meinen, so völlig klar da zu sein in dieser Welt, doch womöglich irren wir uns. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir fast ein Drittel unseres Lebens im Schlaf verbringen und davon große Teile in einem seltsamen Traumreich.

William Blake (1757-1827) sagte einmal so ungefähr: »Stell dir vor, du hast in der Nacht von einer blauen Blume geträumt. Du wachst auf und hältst eine blaue Blume in der Hand. Was dann?«

Ja, was dann?

 

 

 

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.