Onkel Sam

In seiner Autobiographie hat Mark Twain (1835-1910), der ein unglaublich beliebter Autor war, viele Stellen, die es wert wären, zitiert zu werden. Eine ist mir besonders aufgefallen, da sie prophetisch ist. Es geht um sein Heimatland — sagen wir besser: um seinen heimatlichen Halbkontinent — und Europa, woher die Amerikaner ja ursprüglich stammen. Es geht um sie, um uns und ein kompliziertes Verhältnis.

service-pnp-cph-3c10000-3c12000-3c12000-3c12065rMark Twain (alias Samuel Langhorne Clemens, links auf einem Foto von 1907) schreibt also etwa um 1906 (von 1904 bis zu seinem Tod arbeitete er an seinem Lebensrückblick):

Um keinen Preis der Welt lassen wir davon ab, Europa zu erziehen. Seit mehr als hundertfünfundzwanzig Jahren betätigen wir uns als sein Lehrer. Wir sind auf diesen Posten nicht gerufen worden, wir haben ihn uns einfach genommen. Wir gehören zur angelsächsischen Rasse.
(…)
Der Wahlspruch unseres Landes ist »In God we trust«, und jedesmal, wenn wir dieses schöne Wort auf einer Dollarmünze (…) lesen, scheint uns, als bebte und winselte es vor frommer Rührung. Das ist unser öffentliches Motto. Unser privates ist offenbar: »Wenn der Angelsachse etwas haben will, nimmt er sich’s einfach.« … Unsere private Moral wird von dem geheiligten Satz ins rechte Licht gerückt, der lautet: »Las, immer feste treten!«

Wir haben unseren Imperialismus aus den europäischen Monarchien importiert, ebenso unsere seltsamen Vorstellungen von Patriotismus … Es ist also ohne Zweifel nur recht und billig, dass wir uns bei Europa für diese und andere Lehren revanchieren.

service-pnp-cph-3c30000-3c37000-3c37900-3c37922rVor mehr als einem Jahrhundert haben wir Europa den ersten Begriff von Freiheit vermittelt, den es ja gehabt hat; wir haben damit sehr trefflich eine ganze Menge zum Ausbruch der Französischen Revolution beigetragen und können unseren Anteil an ihren heilsamen Folgen beanspruchen. Seitdem haben wir Europa vieles beigebracht. Ohne uns hätte es vielleicht die Tätigkeit des Interviewers nie kennegelernt; ohne uns hätten bestimmte europäische Staaten vielleicht nie die Segnungen der Einfuhrzölle erfahren; ohne uns hätten Europas Nahrungsmittelkonzerne vielleicht nie die Kunst erlernt, die Menschheit gegen Bezahlung zu vergiften; ohne uns hätten seine Versicherungsgesellschaften vielleicht nie herausgefunden, wie man Gewinn aus Witwen und Waisen schlägt; ohne uns hätte die lange nicht in Aktion getretene europäische Sensationspresse ihre Praktiken vielleicht erst einige Generationen später wiederaufgenommen. Unaufhörlich und beharrlich amerikanisieren wir Europa, und eines Tages werden wir’s geschafft haben. 

Das ist doch prophetisch, nicht wahr? Sie haben’s noch nicht ganz geschafft, sind aber weiter gekommen als je zuvor. Google, Amazon, Youtube, Starbuck’s und Serienfilme kontrollieren ihre jeweiligen Tätigkeitsfelder, haben ein Monopol. Ohne sie geht nichts mehr. Die englische Sprache durchwirkt alle Verlautbarungen. Das US-Showbusiness, von Hollywood ausstrahlend, ist das Maß aller Dinge, nur US-Autos kamen bei uns nicht an, und Football und Baseball wollten wir auch nicht in unseren Stadien sehen. Der gute »Onkel Sam« von jenseits des Atlantik jedoch hat bei uns die Hand drauf und kontrolliert eine ganze Menge Aktivitäten.

Mark Twains Autobiographie (mehr darüber morgen) erschien 1959. Deutschland stand vor einem wirtschaftlichen Aufschwung, und die Staaten waren hip: Elvis Presley und Johnny Cash (beide als Soldaten bei uns) wurden verehrt, ein paar GIs waren noch stationiert, Kaugummi und Petticoats wurden salonfähig: Das war alles glamour, den die provinziellen jüngeren Deutschen aufsaugten. Jetzt ist der Lack ab und nichts mehr neu, was von drüben kommt, wir sind realistisch geworden, aber merken gar nicht, wie sehr wir amerikanisiert sind. Doch damals haben sie uns gerettet, und ihr Regime war mild.

Illustration rechts: Uncle Sam und sein englischer Cousin haben die Welt unter sich und freuen sich auf ein gutes Jahr 1899 (F. Victor Gillam, 1858-1920. Dank für dieses Bild und das Portrait oben an die Library of Congress, Washington D. C. 

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