Die Autobiographie
Ganz oben auf dem Regal, in Deckennähe, stand die fünfbändige Gesamtausgabe der Werke von Mark Twain, und mit der Autobiographie fing ich an. 524 Seiten. Die Gesamtausgabe auf Deutsch war 1967 von Carl Hanser in München verlegt worden. Wunderbar bunt war Twains Leben, und er zog so richtig vom Leder, aber … es war nicht seine echte Autobiographie, die ich genossen hatte. Was war es dann (oder denn)?
Mark Twain war ein besessener Schreiber. Als er starb, hinterließ er einen rieigen Stapel Papier. Seine Autobiographie wollte er erst 100 Jahre nach seinem Tod erscheinen lassen, und so kam es auch: 2010 kam das ganze Material zur Veröffentlichung, und dann waren es in drei Teilen etwa 2300 Buchseiten. 1959 hatte der Amerikaner Charles Neider eine Auswahl vorgenommen und sie chronologisch angeordnet, dass sie einer Autobiographie glich. Was ich las, war also ein von einem Außenstehenden gerafftes Leben von Mark Twain aus der Feder von Mark Twain und nur ein Viertel aller Notate. Gut war es trotzdem; ich weiß nicht, ob ich auf 2300 Seiten mit vielen Tagebuchnotizen Lust gehabt hätte.
Immer wieder betont der Urheber, er schreibe aus dem Grab heraus und müsse darum kein Blatt vor den Mund nehmen: Er sei tot, wenn das Ding erscheine. Er hielt sich daran, und so rechnet er mit einigen Leuten ab und übergießt sie mit ätzenden Sätzen. Sie werden es verdient haben: der eitle Schriftseller Bret Harte zum Beispiel oder Webster, der Mark Twain jahrelang gründlich hereinlegte, bis dieser (auch wegen einiger unüberlegter Geschäftsbeteiligungen) bankrott war. 1967 hatte er sich mit dem Reisebuch Die Arglosen im Ausland einen Namen gemacht, hatte Tom Sawyer und Huckleberry Finn geschrieben (einige meinen, damit erst habe die amerikanische Literatur angefangen), umjubelte Vorträge gehalten und hunderte Zeitschriftenbeiträge geschrieben.
1895 hatte er plötzlich nichts mehr und sogar Schulden, aber mit einer Vortragsreise um die Welt gelang es ihm, sämtliche zurückzuzahlen. Mark Twain war nicht nur der Humorist, als den alle ihn sahen, sondern ein produktiver, höchst talentierter Autor. Im Nachwort von Klaus-Jürgen Popp, dem Herausgeber der Gesamtausgabe, wird einem vieles klar; er beschreibt Twains Stil und ordnet dessen Werk ein. Der Journalist habe leider meist über den Epiker triumphiert, deshalb sei das Gesamtwerk inkohärent, seien die Romane etwas zerfahren und nicht ganz überzeugend.
Mark Twain schildert zwischendurch einen Mann, der so erzählen konnte, dass alle an seinen Lippen hingen. Jedoch kam er vom Hundertsten ins Tausendste (»vom Hölzchen zum Stöckchen«, wie jemand aus Hamburg sagen würde) und nie bei der Pointe an, weil er sich immer wieder von Assoziationen und anderen Episoden ablenken und davontragen ließ. So in etwa ist die ganze Autobiographie des Graphomanen Twain.
Er kann sich so richtig in Rage schreiben, wird dann aber wieder so gefühlvoll und ehrlich, dass man ihn einfach gern haben muss. Früh heiratete er Olivia (Livy), eine reiche Erbin, die zart besaitet war, dabei von klarem Geist und gutem Herzen. Es war eine gute Ehe, 34 Jahre waren sie zusammen. Doch er erlebte auch viel Trauriges. Sein/ihr erstes Kind, ein Junge, starb früh (sein Vater gab sich die Schuld an dessen Erkältung, die zum Tod führte), und seine geliebte Tochter Susy, 1872 zur Welt gekommen, starb 1896 mit 24 Jahren in Hartford. Tochter Carla verheiratete sich und zog nach Europa.
1905 ging es mit seiner Frau Livy zu Ende. Sie hatte keine Kraftreserven mehr und hauchte in Florenz ihr Leben aus. Die letzten Seiten der Autobiographie sind herzzerreißend. Mark Twains 1880 geborene (dritte) Tochter Jean war Epilepikerin. Alles wurde fürs Weihnachtsfest 1909 klargemacht, sie bereitete viele Päckchen und eine große Feier vor.
Am Abend des 23. verabschiedeten sich Vater und Tochter herzlich; am nächsten Morgen weckte ihn die Haushälterin: »Miss Jean ist tot.« Am frühen Morgen des 24. Dezember hatte sie nach Monaten wieder einen Anfall erlitten, und ihr Herz blieb stehen. Man ahnt aus Mark Twains Darstellung, dass dieser Tod ihm das Herz gebrochen haben muss. Vier Monate später, am 21. April 1910, starb auch er, 74 Jahre alt. Vor Weihnachten noch war er in blendender Gesundheit von vier Wochen auf den Bahamas zurückgekehrt.
Illustrationen: zwei Fotos von Mark Twain aus dem Jahr 1907; rechts zusammen mit Anna Laura Hawkins Frazer, Vorbild für eine seiner Figuren. Dank an Library of Congress, Washington D.C.