Rückkehr ins Leben: Von der Schippe
Hinrichtungen verlaufen meist tödlich, sagen wir in 9999 von 10.000 Fällen. Es gab immer das ungeschriebene Gesetz, dass jemand, der durch einen Irrtum oder Ungeschicklichkeit dem Tod von der Schippe sprang, seiner Wege gehen darf. Ich habe einige wahre und erfundene Anekdoten darüber gesammelt; dahinter steckt wohl der Wunsch nach einem Wunder und dass das Unabänderliche noch abwendbar sei.
Allzu lustig ist das Thema ja nicht. In 93 von allen 193 Ländern der Erde gilt die Todesstrafe, auch wenn in 28 Staaten seit über 10 Jahren niemand mehr hingerichtet wurde. Das bedeutet allerdings, dass in einem von drei Ländern die Todesstrafe noch angewandt wird. Im Jahr 2019 sollen 3300 Menschen zum Tode verurteilt und 1671 hingerichtet worden sein (hier ist die Quelle).
In dem Märchen Das blaue Licht der Gebrüder Grimm wird der Soldat, »obgleich er nichts Böses getan hatte«, zum Tod verurteilt. Er bat den König um eine letzte Gnade: Das ist sein letzter Wille, dem man gemeinhin folgt und der, wie wir sehen werden, den Todgeweihten retten kann. Der Soldat möchte auf dem Weg noch eine Pfeife rauchen.
»Du kannst drei rauchen«, antwortete der König, »aber glaube nicht, dass ich dir das Leben schenke.« Da zog der Soldat seine Pfeife heraus und zündete sie an dem blauen Licht an, und wie ein paar Kringel vom Rauch aufgestiegen waren, so stand schon das Männchen da, hatte einen kleinen Knüppel in der Hand und sprach: »Was befiehlt mein Herr?« »Schlag mir da die falschen Richter und Häscher zu Boden und verschone auch den König nicht, der mich so schlecht behandelt hat.« Da fuhr das Männchen wie der Blitz, zickzack, hin und her, und wen es mit seinem Knüppel nur anrührte, der fiel schon zu Boden und getraute sich nicht mehr zu regen. Dem König ward angst, er legte sich auf das Bitten, und, um nur das Leben zu behalten, gab er dem Soldaten das Reich und seine Tochter zur Frau.
Nun eine Geschichte aus dem alten Persien, erzählt von Nossrat Peseschkian in dem Buch Der Kaufmann und der Papagei:
Ein armer Mann warf sich nach seiner Verurteilung zu Füßen des Hakem, des Obersten Richters, doch es half nichts. Also bat der Todgeweihte um eine letzte Gnade, und der Richter gewährte sie ihm. Was er wünsche? »Herr, ich wünsche mir nur eines, nämlich das zweiteilige Gebet (Dorekaat) zu sprechen.« Es wurde erlaubt. Doch kein Wort kam über seine Lippen; er fühle sich unsicher, ob er nicht während des Gebetes getötet werde. Da sprach der Richter die folgenschweren Worte aus: »Ich schwöre bei Allah und den Propheten, dass dir nichts geschehen wird, solange du dein Gebet nicht zu Ende gesprochen hast.« Nach dem ersten Teil des Gebetes hielt der arme Mann plötzlich inne. Was das solle? Er antwortete: »Ich habe den ersten Teil gesprochen und jetzt habe ich mich entschlossen, mit dem zweiten Teil noch 25 Jahre zu warten.«
Damit verwandt ist eine Anekdote, die Johann Peter Hebel in sein Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreunds aufnahm:
Ein angesehener Mann, der bei seinem Fürst in der Gunst stand, hatte aus Leidenschaft ein Verbrechen begangen und war dafür zum Tod verurteilt worden. Der Fürst gestattete ihm, seine Todesart zu wählen. Der Oberamtsschreiber zählte ihm die Möglichkeiten auf: rädern, hängen, Rattengift. Der Verurteilte entschied sich für eine andere Variante:
»Wenn ich denn doch sterben muss, das Rädern ist ein biegsamer Tod, und das Henken, wenn besonders der Wind geht, ein beweglicher. Aber ihr versteht’s doch nicht recht. Meines Orts, ich habe immer geglaubt, der Tod aus Altersschwäche sei der sanfteste, und den will ich denn auch wählen, weil mir der Herzog die Wahl lässt und keinen andern.«
Dabei blieb er, und der Fürst stand zu seinem Wort und ließ ihn laufen. — In beiden Fällen bricht der Verurteilte aus der Logik der Hinrichtung aus, vestößt eigentlich gegen den Geist der Satzung, doch soll es erlaubt sein, Geistesgegenwart muss belohnt werden.
Noch einmal Hebel. Rettung vom Hochgericht heißt seine zweite Exekutions-Geschichte. Könnte wahr sein.
Ein einfältiger Mensch hatte eine goldene Uhr gestohlen, und die Richter waren unerbittlich: an den Galgen mit ihm! Der Henker war ratlos; dem Dummen waren Kinn und Hals irgendwie miteinander verwachsen, man konnte kaum den Strick drum herum legen, und als der Henker ihn ungeschickt von der Leiter stieß, rutschte der Verurteilte mit dem Kopf heraus und fiel unbeschadet auf die Erde. Einige Zuschauer lachten.
Aber der Henker stand einige Augenblicke wie versteinert oben auf der Leiter und sagte endlich: »So etwas ist mir in meinem Leben noch nicht passiert.« Da sagte der Malefikant unten auf der Erde, kaltnblütig und mit gequetschter Stimme: »Mir auch nicht.«
Alle lachten, und die Ratsherren meinten: Am Galgen war er, Todesangst hat er ausgestanden, lassen wir ihn davonkommen.
Bei Karl Valentin (Eine Hinrichtungsszene) wird ein Delinquent zum Schafott geführt. Zwei vermummte Richter, brennende Kerzen. Der Verurteilte bekommt das schwarze Tuch über den Kopf und flüstert dem Scharfrichter mit letzter Kraft zu: »Ich bin ja so furchtbar empfindlich!« Der Scharfrichter meldet’s dem Staatsanwalt, der sofort reagiert: »So? Empfindlich ist er? … dann allerdings muss man etwas Rücksicht nehmen. — Schnallen Sie ihn sofort herunter und führen Sie ihn wieder zurück in seine Zelle. — Meine verehrten Zeugen! Wegen Überempfindlichkeit des Dewlinquenten kann die Hinrichtung nicht stattfinden. Ich bitte Sie deshalb, die Richtstätte sofort zu verlassen.«