Mordlust

Um noch einmal auf den Krimi (und die Mordlust) zurückzukommen, will ich eine Stelle aus dem Roman Mittelreich von Josef Bierbichler zitieren, der 2011 auf den Markt gekommen ist. Der Autor schildert die 1950-er Jahre in einem Dorf am Starnberger See, und der Erzähler ist der Oberschlesier Viktor, der sich nach 391 Seiten 1984 von der Welt verabschiedet mit dem Spruch: »Die Erde ist keine Heimat.«

Wenn Viktor berichtet, wie die vielen Neuankömmlinge aus dem Osten, die im Frühjahr 1945 die bayerischen Dörfer überschwemmten, von den Einheimischen eingeschätzt wurden, muss an an Thomas Bernhard denken; das hat alpenländischen Grimm und seinen eigenen Stil.

Nach drei Monaten waren wir in München. Überall war alles schon voll. Lauter Leute ausm Osten. Das konnteste dir, wenn de das nicht gesehen hast mit eigne Augen, gar nicht vorstellen, so viele waren das. Und überall die Gesichter von die Einheimischen. Da hab ich gesehen, was Mörderaugen sind. Zuvor, im Krieg, da wo sie morden durften, da ham die anders geguckt. Da schauten die alle so stumpf. Denn da durften sie ja. Aber da haben sie eben auch noch müssen das schlechte Gewissen unterbringen im Schauen. Wenn du zustechen darfst, fühlste dich zwar nicht mehr gehemmt, da biste dann frei, möchte ich mal sagen. Aber so ein bisschen schlechtes Gefühl bleibt immer hinterher. Und da guckt einer danach eben stumpf. Aber jetzt hatten die Angst um ihre Pfründe. Und uns durften sie ja nicht mehr abschlachten. Obwohl sie uns genauso gehasst haben wie vorher die Juden oder die Russen. Da sagten die Augen alles, kann ich Ihnen sagen. Da sagten die Augen, was sie vorher getan haben und wieder hätten tun wollen. Von Berlin über Nürnberg bis München war alles voll in die Dörfer. Mit lauter Leuten ausm Osten. Und überall diese Augen. Und die Städte! Die waren ja alle hinüber. Also blieb uns nischt anderes über. Wir haben müssen aufm Land suchen unser Glück. No, und da bin ich eben gelandet bei dem Jäger. 

Der Seewirt ist da mit dem frischen Bier schon wieder eine Weile zurück am Tisch, und Viktor nimmt noch einmal einen tiefen Schluck: Er ist jetzt ein wenig erschöpft vom Reden. Und erleichtert. 

Auch das Erzählen befreit. Nicht nur das Morden oder das Zuschauen beim Morden.

 

(Bierbichler, Josef: Mittelreich. Suhrkamp taschenbuch 4408, 2011, S. 98/99 )

 

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