Wie der Wahnsinn kommt
Ist natürlich immer noch unklar, wieso jemand wahnsinnig wird. Grundsätzlich. Doch in vielen Fällen ist es verständlich. Von ihnen bringt manipogo ein paar, wie immer aus der Literatur. Darin geht es um die Kollision der Innenwelt mit ihrer Außenwelt. Den Wahnsinn durch Drogen oder ererbte Faktoren lassen wir einmal beiseite.
Ziemlich drastisch ist Die Geschichte eines Irren von Émile Zola (1840-1902), bekannt geworden durch die Romane Nana und Germinal sowie den Rougon-Macquart-Zyklus aus 20 Bänden. Das mit dem Irren ist geschrieben wie von einem Polizeireporter, und Zola war auch ein realistischer Autor, ein Positivist in der Nachfolge von Auguste Comte: Dem galten Fakten alles, und nachprüfbar sollten sie sein.
»Herr Maurin war ein braver Bürger« ist der erste Satz. Dieser brave, unauffällige, nette Mann heiratet mit 40 Jahren eine 18-jährige, die bald einen Arzt als Liebhaber hat. Sie wollen sich des störenden Ehemanns entledigen, doch was tun? Ein Mord ist allzu scheußlich. Also führt Henriette, die junge Frau, einmal in der Woche eine Szene auf: Sie schreit, rauft sich die Haare, schlägt sich selbst, und ihr Mann begreift nichts. Er hält seine Gattin sogar für verrückt; doch die Sache spricht sich herum, und seine Mitbürger halten ihn für verrückt.
Von nun an konnte Maurin nicht eine Bewegung mehr machen, ohne dass diese Bewegung als die Äußerung eines Irren erschienen wäre. Kaum ging er aus dem Haus, schon waren die Blicke eines ganzen Stadtviertels auf ihn gerichtet, beurteilten jeden seiner Schritte und fanden absonderliche Erklärungen für jede Einzelheit in seinem Verhalten.
Maurin wurde immer nervöser, zu einem Schatten seiner selbst, bis eines Tages die Polizei informiert wird und eine Droschke der Charenton (das Irrenhaus von Paris) auftaucht und ihn mitnimmt. Er schreit und wehrt sich. Ein Jahr später, nach der Trennung von dem Arzt, begibt sich Henriette in die Klinik, weil sie ihren Mann plötzlich liebt. Dieser jedoch sieht aus wie ein Leichnam, hat Anfälle, schreit, schlägt sich auf die Schultern, wälzt sich am Boden. Letzter Satz: »Maurin war wirklich verrückt geworden.«
Auch Friederike Reichler, seit 1922 die Frau von Joseph Roth, wurde verrückt. Er war 32 Jahre alt, sie 26, als die ersten Zeichen der Krankheit an ihr auftraten. Die »pathologische Eifersucht« (Wikipedia) Roths mag eine Rolle gespielt haben. Friederike verweigerte die Nahrung und durchlief diverse Anstalten, bevor sie im Juli 1940 in der Tötungsanstalt Hartheim vergast wurde. Die Nationalsozialisten ließen dort 18.000 Menschen töten.
Derek Walcott, den ich ja verehre, schrieb in einen Gedicht: »Ich weiß, was ich tat, komme nicht darüber weg, / Schlecht hab ich sie behandelt, meine drei Frauen.« In einem anderen Gedicht meint er, er habe durch seine wahnsinnige Eifersucht eine Frau ins Grab gebracht (das finde ich gerade nicht). Außenwelt und Innenwelt. Du weißt, dass du treu bist, dass da nichts war, und da ist einer, der dich immer wieder verdächtigt, der jede deiner Äußerungen für die einer Ehebrecherin hält, und dieser Widerspruch muss jeden zermürben. Diese Welt will man nicht, in der man eine potenzielle Schuldige ist. Man kehrt sich ab von dieser Welt — und wie im Mittelalter eine Pilgerreise ein Weg war, von bedrängenden Verhältnissen wegzukommen, so kann es immer der Wahnsinn sein.
Primo Levi schrieb über den Transport der Todeskandidaten nach Auschwitz im Güterzug: »Oft befinden sich unter den Reisenden … Irre oder Personen, die aufgrund der Reise irre werden.« Man lehnt diese Erfahrung ab, man schaltet seinen Geist aus oder wechselt zu einem anderen Programm über, das keiner je gehört hat.