Der Kutter Yiohan

Laut Programmheft des Theaters Hildesheim werden dort heute, am 12. Juni, die Stücke nach europa und tut uns leid, dass wir nicht im meer ertrunken sind aufgeführt. Seit Anfang Juni wird das Theater wieder »bespielt«, freuen wir uns! Das erste Stück ist Teil drei des Buches Drei starke Frauen von Marie Ndiaye, hier besprochen.

Die beiden Stücke erinnern an die Migrationswelle 2015/16 und an die Reaktion der deutschen Bürger auf die »Eindringlinge«, zutiefst beschämend für ein Volk, dessen Regierung 75 Jahre zuvor beschlossen hatte, Millionen andere zu Untermenschen zu erklären und umzubringen. Und ich dachte an eine Ausstellung in der Schweiz und an das, was ich hinterher darüber geschrieben hatte:

FMW_Invitation_Jodice_72dpi-page-001Der italienische Fotograf und Konzeptkünstler Francesco Jodice (geboren 1967) widmete in der Retrospektive seines Werks Panorama im Frühjahr 2017 im Fotomuseum Winterthur eine Wand in einem Saal einem Geisterschiff: der Yiohan. Eine erste Suche im Internet nach Yioban (wegen meiner schlampigen Schreibweise) ergab keinen Treffer. Es musste sich in der Tat um ein Geisterschiff handeln! Doch die Suche nach Yiohan erbringt auf der Seite »Marine traffic« die Angaben: Yiohan, Trawler, gebaut 1961, Fischfang, 519 Tonnen; keine Angaben zur Flagge; Status: decommissioned or lost. Außer Dienst gestellt oder verloren.

CIMG0216Wikipedia hat 6 Zeilen: Die Yiohan habe 300 Flüchtlinge aus Sri Lanka, Indien und Pakistan transportiert. Am 25. Dezember 1996 (um drei Uhr am Nachmittag) habe der betrunkene Kapitän Yussuf El-Hallal vor Sizilien seine Passagiere in ein kleineres Boot gezwungen und dieses mit der riesigen Yiohan absichtlich gerammt. 283 Menschen ertranken. Der Kapitän wurde des Mordes angeklagt, doch das Verfahren fand nie statt, weil die Tat außerhalb der italienischen Gewässer stattgefunden hatte. Von dem Schiff und den Toten sprach nie mehr jemand, weshalb Jodice es ein »Geisterschiff« nannte. So hieß dann auch 2005 ein Theaterstück im Theater Piccolo Eliseo in Rom über den Fall, den die Behörden nie ernst nahmen. Die Küstenwache wurde nicht aktiv, die Polizei interessierte sich nicht dafür, die Medien hielten sich bedeckt.

Reporter untersuchten das Mysterium. John Hooper vom Observer fand die Yiohan, die neu weiß bemalt war, in einem kalabrischen Hafen. An der Bordwand war noch »oha« zu lesen. Er machte auch Yussuf El-Hallal ausfindig, der in Syracusa vor Gericht gestellt wurde, dann aber verschwand. Die Reporter fanden heraus, dass 14 der Ertrunkenen aus Tordher im Nordwesten Pakistans gekommen waren. Wie alle hatten sie bis zu 10.000 Euro bezahlt, um ins gelobte Europa zu kommen. Viele waren intelligente, gebildete junge Männer.

In Portopalo auf Sizilien, schrieb im Juni 2001 der Guardian (die Geschichte ist im Internet nachzulesen), hätten alle 3300 Einwohner davon gewusst, einschließlich der Pfarrer und der Bürgermeister, aber nichts gesagt, um ihre Einkünfte nicht zu riskieren. Die Küstenwache rechtfertigte sich, sie habe keine offizielle Anfrage erhalten, es habe nur Gerüchte gegeben. Viele Fischer förderten jahrelang Reste von Körpern zutage, auch Arme, Beine und Köpfe. Sie gewöhnten sich daran. Das italienische Innenministerium soll eine Untersuchung angestrengt haben, hieß es im Juni 2001. Von ihr hat man nie etwas gehört.

Heute Abend spielt das Theater Hildesheim nach europa / tut uns leid, dass wir nicht im meer ertrunken sind. Inszenierung: Hüseyin Michael Cirpici. Deutschsprachige Erstaufführung mit türkischen und arabischen Übertiteln. 

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