Erst mal duschen

Das muss jetzt auch noch sein, aber die grässlichsten Details erspare ich euch. Wir sind da, wo wir gestern aufgehört haben: im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Krematorium (es gab vier) hieß nicht nur Verbrennung; der Sonderbau enthielt den Auskleidesaal, die Gaskammern und die Verbrennungsöfen. Im Bau des Krematoriums wurde die Menschenvernichtung »durchgeführt«.

Heute interessiert mich das psychologische Vorgehen. Die Nazi-Schergen handelten mit unerbittlicher Härte und Brutalität. An der Rampe, wenn die Menschen aus den Güterzügen stiegen, bellten Hunde, knallten Peitschen, brüllten schwarz gekleidete SS-Männer. So waren alle eingeschüchtert. Dann die Selektion. Eine Handbewegung des Arztes (Mengele) und Abmarsch. Dann aber konnten die Wärter von einer perfiden Freundlichkeit sein. Man wollte die Verdammten möglichst reibungslos in die Gaskammer dirigieren. Filip Müller arbeitete in Birkenau im Sonderkommando und schrieb das Buch Sonderbehandlung (1979). Darin erzählt er, wie ein Transport von jüdischen Fabrikarbeitern ankam. Nun standen ein paar hundert Menschen mit dem gelben Stern da, neben ihrem Gepäck. Sie waren verunsichert und hatten Angst.

Müller war dabei, und ich fürchte, ich muss die ganze Szene ungekürzt abschreiben (von Seite 60 unten bis 63 oben), damit man es richtig begreift. Das Schaubild an der Seite rechts zeigt Krematorium III. Der kleine Pfeil links oben deutet auf den Eingang. Der Saal in der Mitte dient der Auskleidung. Dann geht es zu den Gaskammern, den drei Räumen ganz oben. Die Leichen wurden danach im Raum unten verbrannt, der (Pfeile) von außen zugänglich war.

2021-04-29-0004Das Geraune und Gemurmel der Menge verstummte plötzlich. Der Blick einiger hundert Augenpaare wandte sich nach oben zu dem flachen Dach des Krematoriums, auf das einige SS-Führer über den schrägen Damm hinaufgestiegen waren. In ihrer Mitte, direkt über dem Eingang zum Krematorium, stand Aumeier, flankiert von Grabner, dem Chef der Lagergestapo, und von Hössler, der später Führer des Frauenlagers wurde.
Als erster ergriff Aumeier das Wort. Mit seiner versoffenen Stimme redete er großsprecherisch auf die verschreckten, verängstigten und von Zweifeln geplagten Menschen ein. »Ihr seid hierhergekommen«, so ließ er sich laut vernehmen, »um so zu arbeiten, wie unsere Soldaten an der Front kämpfen. Wer arbeiten kann und will, dem wird es hier gutgehen.« Nach Aumeier ergriff Grabner das Wort. Er forderte die Leute auf, sich auszuziehen, weil sie in ihrem eigenen Interesse wegen der bestehenden Seuchengefahr desinfiziert werden müssten. »Als erstes müssen wir für eure Gesundheit sorgen«, erklärte er. »Deshalb müsst ihr zuerst unter die Dusche. Wenn ihr gebadet habt, bekommt jeder einen Teller Suppe.«

In die erstarrten Gesichter der Menschen, die begierig auf jedes Wort lauschten, war wieder Leben zurückgekehrt. Jetzt blickten sie schon etwas zuversichtlicher in die Zukunft. Die überzeugenden Ansprachen der SS-Führer hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Das anfängliche Misstrauen und der Argwohn waren der Hoffnung, vielleicht sogar der Gewissheit gewichen, dass doch noch alles gut ausgehen würde. Hössler hatte die Situation erkannt und ließ sich auch noch vernehmen. Um dem großangelegten Täuschungsmanöver den Anstrich völliger Redlichkeit zu geben, spielte er den arglos gewordenen Menschen ein perfektes Theater vor. 

»Sie, dort drüben in der Ecke«, rief er und deutete mit dem Finger auf einen kleinen Mann, »was sind Sie denn von Beruf?«
»Schneider«, lautete, wie aus der Pistole geschossen, die Antwort.
»Herren- oder Damenschneider?« erkundigte sich Hössler.
»Beides«, erwiderte der Gefragte selbstbewusst.
»Ausgezeichnet!« Hössler schien begeistert. »Genau solche Leute brauchen wir in unseren Ateliers. Wenn Sie aus dem Bad kommen, dann melden Sie sich sofort bei mir. Und Sie dort, was haben Sie denn gelernt?« Mit dieser Frage wandte er sich an eine gutaussehende Frau in mittleren Jahren, die ganz vorn stand.
»Ich bin Krankenschwester, Herr Offizier«, antwortete sie.
»Da haben Sie Glück, wir brauchen dringend Krankenschwestern in unserem Lazarett, und wenn noch andere dabei sind, sollen sie sich auch nach dem Bad bei mir melden.«
»Wir brauchen Handwerker aller Art«, mischte sich jetzt Grabner wieder ein. »Installateure, Elektriker, Automechaniker, Schweißer, Maurer und Betonmischer müssen sich alle melden. Aber auch Hilfsarbeiter brauchen wir. Jeder bekommt hier Arbeit und guten Lohn.« Dann schloss Grabner mit den Worten: »Und jetzt zieht euch aus. Beeilt auch, damit die Suppe nicht kalt wird.«

Die anfängliche Angst und die Befürchtungen der Menschen waren wie weggezaubert. Friedlich wie Lämmer zogen sich Männer und Frauen aus, ohne dass man sie anschreien oder schlagen hätte müssen. Jeder bemühte sich, so schnell wie mögich mit dem Ausziehen fertig zu werden, um ins Bad und in die unvermeidliche Desinfektion zu kommen. Nach kurzer Zeit war der Hof von Menschen leer. Nur noch zurückgelassene Schuhe, Kleider, Wäsche, Koffer und Kartons lagen auf dem Boden herum. Betrogen und getäuscht gingen Hunderte von Männern, Frauen und Kindern arglos und zukunftsgläubig in den großen, fensterlosen Raum des Krematoriums. Als der letzte die Schwelle überschritten hatte, schlugen zwei SS-Leute, die darauf gewartet hatten, die schwere, eisenbeschlagene und mit einer Gummidichtung versehene Tür zu und schoben die Riegel vor.

Die diensthabenden SS-Unterführer hatten sich inzwischen auf das flache Dach des Krematoriums begeben, von dem aus die SS-Führer in die Menge gesprochen hatten. Sie nahmen von sechs getarnten Öffnungen die Deckel ab und schütteten, durch Gasmasken geschützt, die grünblauen Kristalle des Zyklon-B-Gases in die Gaskammer.

Nun wurden die Motoren der Lastwagen angelassen, die immer noch in der Nähe standen. Ihr Lärm sollte verhindern, dass man im Lager das Geschrei der Sterbenden in der Gaskammer und ihr Pochen gegen die Türen hören konnte. Uns blieb es nicht erspart, alles aus nächster Nähe mitzuerleben. Es war, als wäre der jüngste Tag angebrochen. Deutlich hörten wir herzzerreißendes Weinen, Hilferufe, Stoßgebete, heftiges Schlagen und Pochen gegen das Tor, und all das übertönt von dem Geräusch der auf Hochtouren laufenden Motoren der Lastwagen. Aumeier, Gräbner und Hössler verfolgten auf ihren Armbanduhren die Zeit, die verging, bis es in der Gaskammer still geworden war. Dabei amüsierten sie sich und rissen makabre Witze. Einen hörte ich sagen: »Das Wasser im Duschraum muss heute sehr heiß sein, weil sie so laut schreien.«

Vernichtungslager Auchwitz-Birkenau. Der rote Kreis unten bezeichnet das Haupttor, an dem die Züge hielten; Kreis zwei in der Mitte steht für die Rampe, an der die Selektion durchgeführt wurde; dann marschierte der Zug der Verdammten noch die hundert Meter zum letzten Kreis oben, Krematorium III.

Vernichtungslager Auchwitz-Birkenau. Der rote Kreis unten bezeichnet das Haupttor, an dem die Züge hielten; Kreis zwei in der Mitte steht für die Rampe, an der die Selektion durchgeführt wurde; dann marschierte der Zug der Verdammten noch die hundert Meter zum letzten Kreis oben, Krematorium III.

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