Anne Ridler, Dichterin

Man kann sicher sein, dass ebensoviele Frauen Gedichte schrieben und schreiben wie Männer. Aber dann … Ich schaute das Inhaltsverzeichnis von drei Sammelbänden mit Lyrik in meinem Bestand durch und zählte: 184 Männern mit ihren Werken standen 8 Frauen gegenüber. Eklatant! Diese Frauen bekommen nun Raum auf manipogo, denn da müssen wieder mehr Gedichte rein!

Schreiben Frauen schlechtere Gedichte? Bestimmt nicht. Vermutlich sind Männer energischer und drücken ihre Gedichte durch, und Verleger sind meistens Männer und Kulturjournalisten auch. So entstand ein »publication bias«, also eine Verzerrung der Realität durch die Veröffentlichungspraxis. Deshalb bringt manipogo nun in drei Beiträgen Gedichte der Frauen, die man wie eine Stecknadel im Heuhaufen suchen muss.

Poetry of the thirties ist ein Band mit englischsprachigen Gedichten aus den 1930-er Jahren, 1964 herausgekommen und bis 1977 fünf Mal neu aufgelegt. Unter den 46 Namen (vertreten auch Berühmtheiten wie W. H. Auden und Dylan Thomas) findet sich nur eine Frau: Anne Ridler (1912-2001). Drei ihrer Gedichte von ihr sind abgedruckt. Nehmen wir das kürzeste (von 1939), At Richmond.

At Richmond the river is running for the city:
Though the tall houses on the hill and hotels
In white paint hint of the cliffs and broader sea,
He cannot falter nor alter from his nature.
Lord, neither let falsity my days dissipate.
I have been weak und injudicious in many things,
Have made my tongue an irritant against my intention,
All quiet but a convalescence after sin,
And have frequently feared. Then forgive
Yet once, bless and beckon to the broken city.

In Richmond

In Richmond fließt der Fluss in Richtung Stadt:
Er kann nicht anders, es ist seine Natur,
Auch wenn die hohen Häuser und Hotels auf dem Berg,
Weiß strahlend von den Klippen reden und der offnen See.
Herr, lass mich mit Falschheit meine Tage nicht vergeuden.
Ich bin in vielem schwach gewesen und auch unüberlegt,
Und meine Zunge ließ ich meiner Absicht widersprechen,
Die Stille war Genesung nach der Sünde,
Und oft gefürchtet hab ich mich. Vergib mir
Einmal noch, und segne und begrüße die zerbroch’ne Stadt.

In ihrem zweiten Gedicht, Zennor, schildert sie die Kraft der Wellen an der englischen Südküste, die mit feurigen Kämmen aufs Land zurauschen, und so gewaltig ist das, dass man sich manchmal frage, warum dieses mächtige Wasser nicht die ganze Welt überschwemmt. In der dritten Strophe (auch sie hat 8 Verse) das Gegenbild: die apfelgrünen Wiesen und die Kühe, die die letzten Sonnenstrahlen des Tages einsaugen. Am Ende dann in zwei Versen die Überhöhung, die Moral gewissermaßen, der Sinn, die Bedeutung:

But all life here is carried on
Against the crash and cry of the moving tides.

Das Leben läuft dahin, unter dem Krachen und dem Schrei der Fluten. Bedrängt und bedroht wie wir sind, leben wir dennoch.

Aisholt Revisited ist der Titel von Anne Ridlers drittem Gedicht in dem Buch. Wieder draußen in der Natur, sie hat das Exmoor in allem denkbaren Jahreszeiten erlebt und war dort mit den Menschen, die sie am meisten liebte, und immer gab es einen Riss, gab es ein Detail aus der Vergangenheit, das unerwähnt bleiben musste. Die Dichterin betet, dass die Einfachheit und Heiligkeit jener Tage nicht vergessen werden und dass sie in der Erinnerung rein bleiben. Die letzten vier Verse sind wieder eine Anrufung:

The landscape was the occasion and the vessel.
So let our times by the living streams,
In the secret cottage, or in the curled combes,
Be taken up into Godhead, and be forever.

Die Landschaft war die Gelegenheit und das Gefäß.
So gib, dass unsere Stunden an den lebendigen Strömen,
In dem geheimen Gehöft, in den gewundenen Mulden,
Geborgen sind in der Gottheit, und das für immer.

 

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