Marie Under

Fritz aus Berlin hat mir einmal den Gedichtband Auf der Karte Europas ein Fleck geschenkt (1991 Ammann-Verlag Zürich) mit Gedichten der osteuropäischen Avantgarde 1910-1930. Daraus hat manipogo schon zitiert, erst vergangenen Sommer. 77 Autoren sind abgedruckt, davon sind 4 Frauen. Ein Gedicht von Maria Komornicka (1876-1945) aus Polen behandelte ich einmal für die Kritische Ausgabe plus, und heute kommt die Estin Marie Under (1883-1980) dran.

Drei Gedichte von Marie Under stehen in dem Buch. Sie sind aus der Zeit zwischen den Kriegen, und die Epoche nannte man später Expressionismus. Alles klingt erhitzt, fiebrig, überzogen, grell und schockierend. So müssen die Jahre damals in den Städten gewesen sein. In Kaebelaul (Klagelaut) beklagt sie das Fehlen von Leidenschaft,

… Versickert ist mir, der Schwester der Sonne
und Braut des Meeres, die Stimme in einem Knebel, und es wühlen
in den Weintrauben meines Blutes gierige Schnäbel —
(…)
Und meiner Seele Feuerstein — lass doch, Gott, deinen Hammer
auf ihn niedersausen, dass er krache
und Funken sprühe, und dass die Reißzähne der Sehnsucht wieder
in die stumm schwellende Beere meines Mundes bissen und die
Wölfe der Leidenschaften die Schafherde meines falschen Friedens
zerrissen!

Ho, die Wölfe der Leidenschaft! In Öised tänavad (Nächtliche Gasse) ist es dunkel, Schlot an Schlot, Laternen, »und wie aus frischen Wunden helles Blut / spritzt Licht aus Fenstern«, und

Larven fallen, lüsterne Lava wacht
In Augenkratern. Die von Sünde prallen
Brustgitter sich von Händen sacht
umtatstet fühlen wie von Raubtierkrallen.
Wie Höfe allen Gästen offen sind
der Frauen Leiber. (…)

In Kleines Lied lodert zwar auch der Himmel, aber nur am Anfang. Das ist eine Vignette, die gut schwingt. Geschrieben 1920, vor 100 Jahren.

Himmel lodernd von Lerchenschlag über der Wiese.
Ein Pfützchen blieb uns vom großen Regen.
Dem macht der Windlümmel angst. Stille 
regen
sich unsere Füße, diese
braunen Käfer unter wuchernder Kamille
wo der Pfad sich lange
nicht mehr
biegt.
So nahe schweben Bremsen, sehr
gesprächig, dass meiner Finger bange
Lämmerschar sich in deinen Händen verkriecht.

Alle drei Gedichte hat Ilmar Laaban übersetzt, ein estnischer Lyriker und Übersetzer (1921-2000). Da hat die Originalfassung des kleinen Liedes noch Platz. Wie exotisch das klingt! Wir verstehen kein Wort.

Välksed laulud

Taevas pöleb löokse leekest;
Tuulepoiss kohutab
suurest vohmast mahajäand
väikest veekest.
Jalgu me: pruune putukaid
aplalt ülerohutab
ammu kadund, kummelaisse kukkund teekäänd.
Parme, väga jutukaid,
höljub nönda ligidal, et
kipuvad su pihku pakku minu sörmi hirmund talled.

 

 

 

 

 

 

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