Anne Sexton

Beenden wir unsere Gedicht-Reihe wiederum mit einer Anne, Anne Sexton. Ihren Namen hatte ich Peter Gabriel aussprechen hören, bei einer Live-Aufnahme von Mercy Street in Mailand; bald danach (2004) sah ich ihn mit seiner Truppe bei einem Auftritt in Rom. »A boat«, sagt Peter Gabriel zur Einleitung, »piccola barca«, und das kommt in dem Gedicht 45 Mercy Street vor, das ihn zu dem Song inspiriert habe. Lest erst das Gedicht und hört euch dann den Song an.

Rd25bbf4327b1681911b32e422cfeae6eAnne Sexton wurde 1928 als Anne Harvey in Massachusetts geboren und heiratete 19-jährig Alfred Sexton, von dem sie sich 25 Jahre später, 1973, scheiden ließ. Sie schenkte zwei Töchtern das Leben. 1956 entdeckte sie die Lyrik und wurde zu einer der gefeiertsten Dichterinnen der Vereinigten Staaten. Sie gewann sogar den Pulitzer-Preis. Ihr Werk gehörte zur damaligen Bekenntnis-Lyrik aus schonungslos subjektiven Gedichten, wie sie auch Sylvia Plath verfasste (1932-1963), die Anne Sexton gut kannte und zu deren Schicksal es Parallelen gab.

Sexton litt unter psychischen Problemen, war manisch-depressiv und manchmal gewalttätig, und wie Sylvia Plath nahm sie sich (1974) das Leben. Mercy Street war auch ein Theaterstück aus ihrer Feder, das 1969 nach langer Vorarbeit aufgeführt wurde. Das Gedicht wurde erst nach ihrem Tod veröffentlicht, und hier steht es im Original. Mercy heißt Gnade, heißt Erbarmen. Have mercy!

45 Mercy Street

In meinem Traum,
wenn ich ins Mark
meines Knochengerüsts bohre,
meinem wahren Traum,
gehe ich Beacon Hill auf und ab
und suche ein Straßenschild —
namentlich MERCY STREET.
Nicht dort.

breslauIch versuche die Back Bay.
Nicht dort.
Nicht dort.
Und doch weiß ich die Nummer.
45 Mercy Street.
Ich kenne das bunte Glasfenster
im Foyer,
die drei Geschoße des Hauses
mit ihrem Parkettboden.
Ich kenne die Möblierung und
Mutter, Großmutter, Urgroßmutter,
die Diener.
Ich kenne den Schrank von Spode,
das Boot aus Eis, solides Silber,
in dem die Butter in Vierecken sitzt
wie seltsame Zähne eines Riesen
berlinwinterauf dem großen Mahagonitisch.
Ich kenne das gut.
Nicht dort.

Wohin bist du gegangen?
45 Mercy Street,
mit Urgroßmutter,
die in ihrem Korsett aus Walfischknochen
kniete und sanft, aber bestimmt betete
zum Waschbecken hin,
um fünf Uhr am Morgen
um Mitternacht
in ihrem wackligen Schaukelstuhl döste,
und Großvater schlief eine Runde in der Vorratskammer,
Großmutter läutete dem Dienstmädchen im unteren Geschoß,
und Nana schaukelte Mutter mit einer überdimensionalen Blume
DSCN1444auf der Stirn, um die Locke zu verdecken
von damals, als sie gut war und als sie war …
Und als sie geboren wurde
und in einer Generation
die dritte, die sie gebären würde,
mich,
mit dem Samen des Fremden, der blühte
zu einer Blume, die Horrid hieß.

Ich gehe in einem gelben Kleid
und einem weißen Notizbuch voller Zigaretten,
genug Pillen, meine Geldbörse, meine Schlüssel,
und bin achtundzwanzig, oder fünfundvierzig?
Ich gehe. Ich gehe.
Ich halte Streichhölzer an Straßenschilder
denn es ist dunkel,
so dunkel wie die ledrigen Toten
und meinen grünen Ford habe ich verloren,
mein Haus im Vorort,
irlandzwei kleine Kinder
aufgesaugt wie Pollen von der Biene in mir
und einen Ehemann
der seine Augen weggewischt hat
um nicht mein Innen im Außen sehen zu müssen
und ich gehe und schaue
und dies ist kein Traum
nur mein öliges Leben
in dem die Menschen Alibis sind
und die Straße unauffindbar bleibt eine
ganze Lebenszeit lang.

Lass die Rollladen herunter —
Es kümmert mich nicht!
Verriegle die Tür, mercy,
wisch die Nummer aus,
reiß das Straßenschild herunter,
wangenwas interessiert es,
was interessiert es diesen Geizhals
der die Vergangenheit besitzen möchte
der auf einem toten Schiff hinausfuhr
und mich mit nichts als Papier zurückließ?

Nicht dort.

Ich öffne mein Notizbuch,
wie es Frauen tun,
und Fische schwimmen hin und her
zwischen den Dollars und dem Lippenstift.
Ich hole sie heraus,
einen nach dem anderen
und werfe sie auf die Straßenschilder,
und schleudere mein Notizbuch
in den Charles-Fluß.
Als nächstes schiebe ich den Traum weg
und knalle in die Zementwand
des plumpen Kalenders
in dem ich lebe,
mein Leben,
und seine aufgestapelten Notizbücher.

 

 

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