Riga
Beginnen wir das zweite Halbjahr 2021 mit einer Exkursion nach Riga, der Hauptstadt Lettlands mit 700.000 Einwohnern. Eine nette Kollegin schenkte mir das Büchlein Riga von Valerio Sepp (ein richtig bayerischer Name!), und damit fing es an. Man könnte mit dem Rad ja mal hinfahren. Mal sehen, ob es uns gelingt, das Wort Riga etwas mit Leben zu füllen.
Das Buch ist ein Städteführer und schildert brav die Sehenswürdigkeiten. Schöne Altstadt, Grüngürtel, Fluss und Kirchen … kennen wir von vielen Städten. Man fliegt drüber weg und könnte werweißwo sein: Barcelona, Minsk, Florenz, Athen, Prag, Oslo, Saragossa … Ohne Geschichte sind wir blind. Was suchen Touristen eigentlich in großen Städten? Was ist das Unverwechselbare? Was zeichnet eine Stadt aus? Wandern wir nur durch eine Ansammlung von Häusern, suchen ein Café aus, sitzen in einem Park, so what?
Kurios, dass einige wichtige Ereignisse in Jahre fielen, die mit -21 oder -22 enden. (Wieder Wikipedia konsultiert.) 1222 war die Stadt Sitz der Erzbischöfe von Riga, war eine Hansestadt und hatte schon einen Rat, der es zuließ, dass die Bürger ihren Stadtvogt selber wählen durften. 1522 schloss sich Riga der Reformation an: ein wichtiger Schritt. Die Erzbischöfe hatten das Nachsehen. 1581 huldigte die Stadt dem polnischen König, bis sie 1621 von Gustav II. Adolf für Schweden erobert wurde. Bald war die Stadt die zweitwichtigste Schwedens nach Stockholm und blieb es bis 1721, als im Frieden von Nystad Riga dem russischen Reich zugeschlagen wurde.
1800 hatte Riga 30.000 Einwohner, und fast die Hälfte war deutschstämmig. (1938 waren es zwölf Mal so viele, aber nur mehr 15 Prozent Deutsche und 15 Prozent Juden.) Russland machte die Stadt zu einem wichtigen Hafen, und dann kam der Erste Weltkrieg. Das Deutsche Reich ließ die Stadt besetzen, und 1921 war das wieder zu Ende, es kamen von neuem die Russen. Das wiederholte sich 1941: Überfall durch die Deutschen. Die 44.000 Juden wurden ins Rigaer Getto gesperrt. 60.000 Menschen wurden von den Deutschen bei Massakern ermordet. 1944 rollten die Russen abermals an und die Stadt auf und blieben 40 Jahre. 1991 wurde die Unabhängigkeit Lettlands von der Sowjetunion anerkannt. Freiheit!
Verdienstvoll ist die Wikipedia-Liste mit Prominenten aus Riga. Heinz Erhardt ist da geboren! Und den wichtigsten haben sie vergessen: Werner Bergengruen (1892-1964), der bei manipogo in zwei Beiträgen vorkommt, Bruder Engel, Schwester Engel und Die Befugten. Noch ein Foto aus dem Band mit Gesichtern an Jugendstil-Fassaden, diesmal von links und mit Gekritzel, damit es nicht so offensichtlich ist, dass ich mich aus dem Buch bedient habe. Manchmal habe ich keine Lust zu fragen, ob ich Fotos verwenden darf, mein Blog ist schließlich nicht-kommerziell.
Eine Geschichte von Herrn Sepp ist nett. Mit der 123 Meter hohen Kirchturmspitze der St. Petruskirche hatte es eine besondere Bewandtnis.
Immer wenn es Zeit war, den Hahn darauf zu ersetzen, stieg der oberste Baumeister mit einem Glas Wein auf die Turmspitze, trank den Wein aus und warf das Glas auf den Boden hinunter. Angeblich konnte man dann aus der Anzahl der Glassplitter ersehen, wie viele Jahre die Konstruktion halten würde. … Nach einem Brand im Jahr 1719 dauerte der Wiederaufbau der Kirchturmspitze mehr als zwanzig Jahre. Zur Fertigstellung kletterte der Baumeister, der Tradition entsprechend, auf die Spitze und warf das Weinglas hinunter. Dieses fiel direkt auf die Heuladung eines vorbeifahrenden Wagens, wodurch nur der Hals des Glases zerbrach. Laut Meinung der entsprechenden Fachleute bedeutete dies, dass der Turm 200 Jahre halten würde. Genau 200 Jahre später, am 28. Juni 1941, brach der Turm, einschließlich Spitze und Wetterhahn, während des deutschen Artilleriebeschusses von Riga zusammen.