Deutsche und Franzosen
Seit einem Jahr nicht mehr in Frankreich gewesen. Ich muss ja nur elf Kilometer westlich fahren, den Rhein überqueren und bin bei den Nachbarn. Da will ich wieder hin: mit dem Rennrad durch die Vogesen! lJemand lieh mir das Buch Nackte Wahrheiten von Martin Graff, 1944 geboren. Das hat er 1994 geschrieben und darin oft die damaligen obersten Politiker erwähnt, die heute keiner mehr kennt. Doch überzeitliche Wahrheiten stehen auch drin über Deutsche und Franzosen.
Schon Seite 8 sollte man zitieren. Irgendwo sagte doch Peter Bichsel, die Deutschen erinnerten ihn an die Unmöglichkeit, glücklich zu sein. Martin Graff geht noch weiter:
Die Deutschen sind die unglücklichsten Menschen auf der Welt. So sehr sie sich auch anstrengen, es gelingt ihnen nicht, das Leben zu genießen. Sie haben weder Mont-Blanc noch Côte d’Azur. Sie sind so deprimiert, dass sie nicht einmal mehr Kinder wollen. Genauso lehnen sie die Kinder anderer, etwa der Einwanderer, ab, die ihnen ihre Rente sichern könnten. … Die Deutschen bereisen die Welt in alle Himmelsrichtungen, weil sie unablässig auf der Suche nach der verlorenen Zeit sind, die nichts anderes ist als das unerreichbare Glück.
Martin Graff schreibt von Leuten, die mit einem Rucksack an Entschuldigungen unterwegs sind; mit den Nazis haben sie nichts zu tun. Das Buch ist fast 30 Jahre alt, die Nazis wüteten vor 80 Jahren, mittlerweile sind die Mitmacher weniger geworden. Doch an Nachschub für Blöde fehlt es nicht.
Und dann denken Sie bitte an die Bilder von Hoyerswerda 1991 und Rostock 1992. Das Volk feuert die Skins an, mit undeutschen Köpfen zu kegeln. Haben Sie in unserem schönen Frankreich je etwas Ähnliches gesehen? Monate mussten vergehen, bis die deutschen Politiker ihrerseits auf die Straße gingen, um gegen die Rassiusten zu demonstrieren.
Wir denken auch an die Hooligans, die im Juni 1998 drüben in Frankreich den Gendarmen Daniel Nivel so zusammenschlugen, dass er behindert blieb. Die deutsche Nationalmannschaft spielte weiter, verlor 0:3 gegen Kroatien, und Frankreich wurde Weltmeister mit jener legendären Mannschaft: Barthez — Thuran, Desailly, Leboeuf, Lizarazu; Karembeu, Deschamps, Petit; Djorkaeff, Zidane, Guivarc’h. Dieses Jahr, 23 Jahre weiter, schieden sie bei der Europameisterschaft aus. Gegen die Schweiz. (Gegen Deutschland wäre schlimmer gewesen.)
Lassen wir weiter den Polemiker Graff sprechen. Die Göttergabe des Esprit (Geist) erlaube Frankreich,
allein mit der Kraft ihrer Intelligenz die Welt zu verändern, eine Fähigkeit, die unseren Nachbarn jenseits des Rheins völlig abgeht. Mögen sie in ihren Sparstrümpfen noch so viele D-Mark horten, so haben sie außer Mercedes, Panzern und schlüsselfertigen Giftgasparfümerien, deren Sprays uns im Golfkrieg in Atem hielten, nichts zu bieten. »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein«, warnte uns schon vor zweitausend Jahren Jesus Christus. Diese Botschaft haben die Deutschen trotz Luther nie begriffen. es ist an uns, ihnen aus ihrer Krämerraffgier herauszuhelfen, an der sie so viel Gefallen finden.
Nun: die Sprache.
Die Germanen geben unumwunden zu, dass Deutsch trotz Goethe und Thomas Mann ein hässliches Bauernidiom ist. Seit grauer Vorzeit sind sie davon überzeugt, dass Französisch die schönste Sprache der Welt ist. … Die Deutschen sind Opfer einer frankophonen Sprachvergiftung, der schon Preußenkönig Friedrich II. erlag … Für unseren Aufklärungsfürsten taugte »Deutsch eh nur als Kommandosprache für Soldaten und Pferde«.
Symbole? Brauchen wir die?
Ein Volk lebt nicht nur von Honig, Milch und Autos, sondern auch von Symbolen, diesen Laternen für verwirrte Seelen. Hitler hat dem deutschen Volk sein symbolisches Reservoir geklaut: Luther, Goethe, Cranach, Beethoven. Das Reservoir konnte in 40 Jahren Bundesrepublik nicht aufgetankt werden, schon gar nicht mit einer geschenkten Demokratie.
Schließlich:
Die Deutschen sind Romantiker. Die Franzosen sind Rationalisten. (…) Niermand ist weniger romantisch als die Deutschen, und niemand ist weniger rationalistisch als die Franzosen. Also, dreht das Hemd um. Die Gallier sind Romantiker, und die Germanen sind Rationalisten. (…) Die Deutschen besitzen eine richtige semantische Rakete, die jede Emotion tötet: das Wort »sachlich«, das Pendant zu neutral und objektiv. Sie verwenden es 24 Stunden am Tag — aus Angst, eine Emotion entstehen zu lassen, die dem Rationalismus der freien Marktwirtschaft gefährlich werden könnte, also aus Angst, gerührt, bewegt, ergriffen zu werden, kurz: aus Angst zu leben und zu lieben.
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Da mag schon was dran sein. Und die Franzosen mit ihrer Liebe, l’amour! Toujours l’amour!
Etwas angestaubt wirken diese Aussagen Graffs. 27 Jahre sind eine Menge Zeit, vor allem in dieser »schnelllebigen«, was zutrifft, denn das Internet hat viele Unterschiede verwässert und eine neue Generation hervorgebracht, die wir Älteren nicht mehr kennen. Allein das unendliche Herumgequatsche verwirrt alles; einfache Aussagen sind nicht mehr treffend. Etwa: die Symbole. Hitler hat sie nicht geklaut, sondern hat sie für immer beschmutzt; dass ein kulturell hochstehendes Volk so tief sinken konnte … Außerdem: Wer interessiert sich heute noch für Goethe, Cranach, Beethoven? Die weltweite Unterhaltungsindustrie ist über die Nationen gefegt und hat ihnen ihre Identität genommen. Gibt es noch so etwas wie Nationalbewusstsein? Wenn es weg wäre, wär’s kein Schaden. Doch was haben wir stattdessen? Dass wir uns vergnügen wollen und es so gut haben wollen, wie es halt geht, uns viele technische Gimmicks zulegen und gut kochen, ja, wunderbar. Dieses Programm kann einen ein paar Jahre über Wasser halten, aber für eine Lebensreise ist es nicht genug. Was da fehlt, steht bei manipogo.