Die Marie A.

Nach neun Jahren und 2300 Artikeln verheddert man sich leicht … Ich war sicher, das Gedicht Erinnerung an die Marie A. schon einmal verwendet, auch einen denkwürdigen Abend in Hamburg erwähnt zu haben, aber wo? Vielleicht in der Kritischen Ausgabe. Oder in einem Buch. Das Brecht-Gedicht spielt im September und bedeutet mir viel; warum, erzähle ich gleich.

Ich hatte im Großraum der Deutschen Presse-Agentur in Hamburg oft Spätdienst; da war man von 20 Uhr bis 22 Uhr alleine am Desk, hatte aber neben sich den Kollegen der Auslandsredaktion (meist männlich). Es war vielleicht 1987 oder 1988, und einen Abend saß neben mir der kleine, freundliche Dieter Basil, berühmt geworden als Schweden-Korrespondent durch die Überschrift »Königin Sylvia bekommt ein Kind«, weil die Zeile darunter verriet: »Von dpa-Korrerspondent Dieter Basil«. Er war damals schon nahe der Pensionierung, mochte mich und kratzte, weil nichts zu tun war, ein Gedicht aus dem Gedächtnis zusammen, Zeile für Zeile, und das war denkwürdig (Internet gab es nicht), da glühte es so langsam auf. Es gibt ja ein Bild aus dem Band zum 40. Jubiläum der dpa, und rechts oben sieht man den jungen Redakteur, irgendwie freakig immer schon; und Dieter Basil ist der konzentrierte Redigierer ganz unten mit der Brille auf der Nase. Wo ist er jetzt, ist er etwa eine Wolke oder sitzt er auf einer solchen?

dpa

 

Es war auch das einzige Gedicht, bei dem die Augen meiner Mutter aufglühten, wenn ich es vorlas, auch als sie schon ziemlich dement war. Das kannte sie, da passte sie auf. Was sie auch noch sehr gut kannte und liebte, wo sie sichtlich aufmerkte, das war: die Stimme von Van Morrison. Auf Youtube gibt es ein ganz neues Konzert mit ihm, das 1:38 Stunden dauert. Hab ich jetzt laufen, nur für die Mutti, die mich gerade von einem Bild auf dem Fenstersims her angrinst. Das Gedicht spielt übrigens im September. Ist von Bertolt Brecht.

Erinnerung an die Marie A.

1
An jenem Tag im blauen Mond September
Still unter einem jungen Pflaumenbaum
013Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe
In meinem Arm wie einen holden Traum.
Und über uns im schönen Sommerhimmel
War eine Wolke, die ich lange sah
Sie war sehr weiß und ungeheuer oben
Und als ich aufsah, war sie nimmer da.

2
Seit jenem Tag sind viele, viele Monde
Geschwommen still hinunter und vorbei.
DSCN4605Die Pflaumenbäume sind wohl abgehauen
Und fragst du mich, was mit der Liebe sei?
So sag dich dir: Ich kann mich nicht erinnern
Und doch, gewiss, ich weiß schon, was du meinst.
Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer
Ich weiß nur mehr: ich küsste sie dereinst.

3
Und auch den Kuss, ich hätt ihn längst vergessen
Wenn nicht die Wolke dagewesen wär
Das weiß ich noch und werd es immer wissen
Sie war sehr weiß und kam von oben her.
Die Pflaumenbäume blühn vielleicht noch immer
Und jene Frau hat jetzt vielleicht das siebte Kind
Doch jene Wolke blühte nur Minuten
Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind.

013

 

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