Blitzartige Montage

Auf Heile Welt hatte ich gestern verlinkt. Pier Paolo Pasolini nannte das Fernsehen unmoralisch, weil es drauflosfilmt und etwas als Realität verkauft, was ausgewählte Realität ist, zudem verändert durch die Anwesenheit der Kamera und einer Ideologie im Hintergrund, die Pasolini in den 1960-er Jahren eine kleinbürgerliche nannte. Der Film dagegen arbeitet mit der Montage, schafft eine neue Realität mit den Mitteln der Realität.

Es gibt freilich Magazinsendungen im Fernsehen, deren Beiträge auch montiert sind, doch immer geht es um eine klare Aussage im Sinne der herrschenden Denkungsart, mit der der Beitrag endet. In einem guten Film ist das Endergebnis nicht immer klar; Pasolini schreibt, der Sinn wäre aufgehoben oder zumindest nicht leicht auffindbar. Jedenfalls: die Montage. Nun kommt er zu einem abenteuerlichen, aber nicht abwegigen Gedanken, denn schon griechische Denker der Antike behaupteten, dass man über kein Leben vor dem Tod etwas sagen kann. Pasolini:

Darum ist es absolut notwendig, zu sterben, weil wir des Sinns ermangeln, solange wir leben und die Sprache unseres Lebens (mit der wir uns ausdrücken und der wir die höchste Wichtigkeit beilegen) noch unübersetzbar bleibt. Der Tod vollzieht eine blitzartige Montage unseres Lebens oder wählt die wirklich signikativen (und nicht mehr modifizierbaren) Momente aus und setzt sie hintereinander … Nur dank des Todes dient unser Leben dazu, uns auszudrücken.

Interessant, der Gedanke der Montage und des Todes. Erst in dem Jahr, in dem Pasolini ermordet wurde (1975), erschien Life After Life von Raymond Moody, und es dauerte viele Jahre, bis die Öffentlichkeit zur Kenntnis nahm, dass Nahtod-Erfahrungen in mindestens 30 Prozent mit einem Lebensrückblick einhergehen, bei dem die ganze Existenz blitzartig durchlaufen wird: vermutlich wirklich die signifikativen Momente. So bekommen wir einen Gesamteindruck, aber keiner berichtete, dass es Vorwürfe gegeben hätte. Nein, man sieht sein Leben und hat es dann hinter sich. Eine Läuterung oder Katharsis entsteht vielleicht unwillkürlich, weil wir auch die Gefühle der Mitmenschen mitfühlen, auf die wir trafen und denen wir vielleicht wehtaten.

Die Frage ist: Wer spielt uns diesen Film vor? Wer wählt die signifikativen Momente aus? Anscheinend ist alles, was wir erlebt haben, aufgezeichnet worden, und anscheinend hat unser Höheres Selbst den Überblick und zeigt uns diese Auswahl, um uns etwas beizubringen, auch, wann wir jemanden verletzt haben. Alles dient nur dazu, unser Bewusstsein zu öffnen, denn bald werden die Details des Lebens vergessen sein. Das Höhere Selbst sind wir selbst, ist vielleicht etwas wie unser Schutzengel, der uns leiten möchte, sich aber nicht vordrängt und uns die freie Wahl lässt.

Das Leben bietet Material, es wird montiert. Aber gerecht wäre es nicht, uns auf unsere Vergangenheit zu reduzieren. Wir wollten vielleicht vieles, und fast alles ist schiefgegangen! Was dann? Darum gefällt mir der Satz eines Weisen so gut, der alles auflöst. Ich muss da etwas vorgreifen, er erscheint bei manipogo erst im zweiten Teil der Nahtod-Erfahrung von Jayne Smith übermorgen. Als Jayne fragt, wie es mit ihren Sünden sei (sie könnte auch sagen: mit dem, was schiefging), antwortet der Weise, dass es keine Sünden gäbe, wie wir sie bezeichnen. Er sagt, wichtig sei nur, was du denkst.

Da haben wir es. Entscheidend war das, was wir gewollt haben und was uns zu dem Wesen machte, das da zurückblickt. Was wir dann sind, wenn wir alles hinter uns haben, ist entscheidend und nicht, was wir getan oder unterlassen haben. Diesen Satz werde ich nie vergessen.

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