Aristoteles, Brecht und die Bühne

Nach dem Kormákur-Film darf es ein Ausflug in die Theorie sein. Den erfolgreichen Film Nomadland behandelt manipogo dann in acht Tagen. Das war ja ein Indipendent Film, und wir zählen alle schrägen und ungewohnten Filme dazu und stellen dagegen Hollywood, das Fernsehen und die Populärkultur. Mal sehen, was dabei herauskommt.

Fangen wir bei der Poetik von Aristoteles an, die er um das Jahr 330 vor Christus verfasste. service-pnp-highsm-41700-41722rDer griechische Philosoph unterscheidet Epik (Roman in Versen), Tragödie und Komödie. Theater ist bei ihm Nachahmung: Die Tragödie ahmt bessere Menschen nach, als wir es sind, die Komödie schlechtere. Eine Fabel wird erzählt, dann gibt es einen Umschlag (Peripetie): Der Zuschauer erlebt Jammer (eleos) und Schaudern (phobos), wodurch es zur Katharsis komme: einer Reinigung und Läuterung. Die Zuschauer fühlten sich »auf lustvolle Weise erleichtert«. Von der Poetik ist leider nur der erste Teil überliefert, und Wirkung hatte es in Europa nur von 1520 bis etwa 1770.

Danach entstand der Geniekult, dem Gefühle und Affekte alles waren, und erst Bertolt Brecht (1898-1956) kam wieder auf Aristoteles‘ Theorie zurück. Er nannte sein Kind »episches Theater«, wollte kein Versumpfen in Gefühlen, sondern durch seinen V-Effekt (Verfremdung) Nachdenken auslösen. In seinen Schriften zum Theater schreibt er (siehe meinen letzten Satz von gestern, auf den ich hier ein Echo fand):

Das »Natürliche« musste das Moment des Auffälligen bekommen. Nur so konnten die Gesetze von Ursache und Wirkung zu Tage treten. Das Handeln der Menschen musste zugleich so sein und musste zugleich anders sein können.

Brecht, der Stückeschreiber, stellte die Oper (also das dramatische Thater) seinem epischen Theater gegenüber. Und da sagen wir gleich, dass wir für Oper auch das Fernsehen und Hollywood sowie den Populärkitsch einsetzen können: Das funktioniert alles gleich.

stanislawskiDie Oper (Fernsehen/Hollywood) handelt und verwickelt den Zuschauer in eine Bühnenaktion, verbraucht seine Aktivität und ermöglicht ihm Gefühle. Der Zuschauer wird in etwas hineinversetzt, steht mittendrin und erlebt mit; es gibt Spannung, wie es wohl ausgeht (der Ausgang), jede Szene führt zur nächsten, alles geschieht linear und zwangsläufig, und es herrscht das Gefühl vor. Was zum Fernsehen zu sagen wäre, hat manipogo mit der Stimme Pasolinis vor zwei Jahren gesagt, Heile Welt nennt sich der Beitrag.

In der epischen Form des Theaters wird eher erzählt, und der Zuschauer (die Zuschauerin auch, klar) wird zum Betrachter, dessen Aktivität geweckt wird. Er/sie muss nachdenken und ist irritiert, und die Spannung bezieht sich auf den Gang des Stücks, nicht den Ausgang. Das Geschehen verläuft in Kurven und Sprüngen, und es herrscht die Vernunft vor, wobei Brecht freilich auch das Gefühl zulassen wollte.

Durch die etwas anderen Filme, die unabhängigen, werden wir nicht ganz von Gefühlen überrollt (und damit manipuliert), angesaugt und frisch gewaschen ausgespuckt nach der angeblichen Katharsis von Aristoteles; wir behalten unsere Freiheit, wir dürfen uns wundern, und ein bißchen Distanz schadet nicht.

 

Illustrationen: Oben rechts eine Statue von Mark Twain vor dem Midland-Theater in Newark, Ohio, fotografiert von Carl M. Highsmith 2016 (Dank an Libraray of Congress, Wash. D. C.); links unten der große (Konstantin Sergejewitsch) Stanislawski (1863-1938) mit einer Schauspielerin, der Wirklichkeitstreue und Identifikation mit der Rolle forderte und auch die Strasberg-Scule beeinflusste

 

 

 

 

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