Freundesland

Mit einem Blick erfasste ich drei Buchtitel im Heitersheimer Second-Hand-Bücherregal, die miteinander zu tun hatten: Terence Pritties Brandt-Biografie; Brigite Seebacher-Brandt über Bebel (fast hätte ich Babel geschrieben); Rut Brandt, Freundesland. Ich wählte letzteres Buch, weil mir Rut Brandt noch als sympathisch in Erinnerung war. Ein Buch auch über die Jahre der Macht, passend zum Wahlsonntag.

Der entsprechende Tag vor 52 Jahren, im Jahr 1969, war der 28. September. Willy Brandt war im Parteihaus, seine Frau Rut mit Freunden bei Hühnersuppe zu Hause. Sie erinnerte sich in Freundesland:

Die SPD legte zu, während es immer katastrophaler für die FDP aussah. Sie büßte ungefähr die Hälfte ihrer Stimmen ein. Da saßen wir mit unserer Hühnersuppe und verloren den Appetit. Kiesinger erhielt Glückwünsche von Nixon, und die Junge Union der CSU zog mit Fackeln in den Garten ihres Kanzlers. Die Wahl war verloren.
Dann aber, gegen elf Uhr am Abend, sahen wir plötzlich einen energischen Willy Brandt auf dem Fernsehschirm: »Ich habe die FDP wissen lassen, dass wir zu Gesprächen mit ihr bereit sind …«
Und während die CDU jubelte und den Sieg feierte, begann bei SPD und FDP eine fieberhafte Aktivität, um eine Regierung mit hauchdünner Mehrheit zustande zu bringen.

R.759116f371870548c7978dd8c170eb98Und sie kam zustande. Willy Brandt wurde mit 251 von 495 Stimmen zum neuen Kanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt. 13 Jahre lang dominierten danach die Sozialdemokraten die deutsche Politik (Brandt bis 1974, dann Helmut Schmidt bis 1982) und dann noch einmal von 1998 bis 2005. Die erste sozialliberale Koalition war damals, 25 Jahre nach dem Krieg, das Signal für einen Neuanfang nach der »bleiernen Zeit« unter Adenauer und Kiesinger. Sie kam zusammen sechs Wochen nach dem legendären Woodstock-Festival und war begleitet von den Beatles im Swinging London und Studentenprotesten — und stand am Ende eines Jahrzehnts mit Hippies und der Beschwörung von Liebe und Frieden. Sogar der damals 12-jährige Autor dieser Zeilen spürte den frischen Wind und klebte sich kleine SPD-Sticker auf die Schultasche — und wurde dafür von rechts denkenden Mitschülern verhöhnt.

Rut Hansen war 1920 in Hamar zur Welt gekommen, einer Kleinstadt im Süden Norwegens, nicht weit von der Grenze zu Schweden gelegen. Im Frühjahr 1940 überfielen die Deutschen ihr Land, und Rut schloss sich dem Widerstand an, wurde verhaftet, wieder freigelassen, und in Stockholm traf sie zum ersten Mal Willy Brandt — bei ihrer Hochzeitsfeier mit Brum. Willy, der Lübecker, war auch verheiratet und als Journalist tätig. 1946, nach dem Krieg, starb Brum an einer Lungenkrankheit, und irgendwann erschien Willy in Kopenhagen, um Rut nach Berlin zu lotsen: nach Deutschland, das sie dann nach ihrer Hochzeit mit ihm 1947 zur Wahlheimat erkor. Deutschland wurde Freundesland.

97664f588bf363c4e2e3e1401ab8e174--childhood-memories-sDas erinnert durchaus an die biblische Rut, die als junge Witwe mit Schwiegermutter und Schwester Moab verließ, um in Israel (in Bethlehem) ihr Glück zu versuchen. Und Boas heiratet sie. Willy Brandt wurde schließlich Bürgermeister von Berlin und Kanzlerkandidat der SPD. Nach dem Sieg mussten sie nach Bonn umsiedeln. Rut bekam drei Kinder und blieb als First Lady im Hintergrund und begleitete ihren Mann, wo es nötig war. Sie hat ihr Buch frisch und schlicht zugleich geschrieben; Rut Brandt nahm alles nicht zu ernst, hatte also die nötige Distanz, um klug urteilen zu können. Politiker und Musiker (vor allem Rostropowitsch) wurden ihr zu Freunden, sie hatte ein offenes Haus und keine Vorurteile, und sie hatte Humor.

Schön auch, dass sie Willy nicht bloßstellt; sie schont ihn. 1974 war er wegen des DDR-Spions Guillaume in seinem Kanzleramt zurückgetreten. 1978 erlitt er einen Herzinfarkt, nach dem er sein Leben »neu ordnen« wollte. Da gab es schon eine Beziehung zu einer anderen Frau, wozu er sich jedoch äußerte. Er verlangte die Scheidung (nicht sie, wie es bei Wikipedia über W. Brandt heißt), und 1980, nach 33 Jahren Ehe, gingen sie auseinander, ohne sich jemals wieder zu sehen. Willy Brandt starb 1992, fast 80 Jahre alt; Rut Brandt ging 2004 in ein Altenheim in Berlin und starb dort 2006.

Vielleicht erinnern wir noch an zwei andere Frauen in der Politik der damaligen Zeit. Mildred Scheel war die beliebte Ehefrau des FDP-Politikers Walter Scheel, der später Bundespräsident wurde. Die Ärztin gründete die Krebshilfe und sprach über die Krankheit, als alle sich davor scheuten. Sie starb schon 1985, erst 54 Jahre alt. Hannelore Kohl gründete als Frau von Helmut Kohl (Kanzler von 1982 bis 1998) eine Stiftung für Hirnverletzte. Hannelore wurde öffentlich gemein angegriffen: nach der Spendenaffäre und durch angebliche finanzielle Unregelmäßigkeiten bei ihrer Stiftung, die nie bestätigt wurden. Sie war krank und angeschlagen und nahm sich 2001 das Leben. In der Öffentlichkeit wenn man sich bewegt, wird man schnell zur Zielscheibe von Idioten; doch Rut Brandt kam gut durch.

Und natürlich denken wir auch an Angela Merkel, die uns, wie ich meine, in 16 Jahren klug geführt hat. Unvergessen, wie sie 2015 sagte »Wir schaffen das!« und eine Willkommenskultur ausrief. Hunderttausende Flüchtlinge strömten ins Land. Diesen Appell zu verwirklichen und gegen Widerstände durchzuhalten, das erforderte gewiss großen Mut, da zuweilen chaotische Zustände auftraten. Danke, Angie, sagen wir und wünschen dir alles Gute für deinen Ruhestand.

 

 

 

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