Gehirn, Psyche, Geist
Da fand ich im September-Heft des Naturheilkunde-Journals den Artikel Gehirn, Psyche, Geist — Wer bestimmt unser Ich? von F. A. Dietrich, der das Buch Woher weißt Du wer du bist? geschrieben hat. (Im Titel fehlt ein Komma, oder?) Er schreibt vollmundig: »Begleiten Sie mich auf eine Reise in die geheimnisvollen Welten unseres Ichs, und ich werde Ihnen zeigen, dass …«
Auf 3 Seiten soll uns gezeigt werden, dass wir mehr sind als das, was uns bisher vermittelt wurde. Abenteuerlich ist das schon, auf 3 Seiten darlegen zu wollen, was den größten Philosophen in 2000 Jahren nicht gelungen ist. Schön ist zwar das folgende Bild:
Unser Gehirn ist nur das Klavier, der Pianist sitzt woanders.
Wer ist der Pianist, und wo sitzt er? Das erfahren wir nicht. (Im Bild ist es klar: Das ist Maurizio Pollini, der italienische Pianist, und er sitzt, wo er sitzen muss: am Klavier. Foto von Bernard Gotfryd, Dank an Library of Congress, Wash. D. C.)
Dietrich führt die Präkognition und die Telepathie ins Feld, die seinen Worten nach »mittlerweile auch durch neuere Forschungen bestätigt wurden«. Eigentlich wurden diese Phänomene bereits vor 120 Jahren belegt, nur hat der Mainstream die Ergebnisse unterschlagen und ignoriert. Zur Präkognition fragt der Autor, welcher Teil von uns die Information erhalte und ob unser Leben vorherbestimmt sei. Das sind Fragen, über die viele Bücher geschrieben wurden. Sie werden uns hingelegt, und dann stapft der Autor unverdrossen weiter. Die Quanten-»Verschränkung« sei »letztlich für uns unverständlich«. Damit hakt der Autor rasch die Frage nach Welten jenseits von Raum und Zeit ab, die es zwar gebe, ihn aber stören, denn er hat nur 3 Seiten und noch Punkte auf seiner To-do-Liste: Krebs und Psyche, Geistheilung und Nahtod-Erfahrungen. Es gehört eine Menge Chuzpe dazu, sich munter durch die Rätsel der Menschheit zu pflügen und dann im Fazit zu schreiben:
Drüber hinaus besteht natürlich noch die Frage, was unsere persönliche Weterentwicklung mehr beeinflusst. Unser Unterbewusstsein oder unsere Lebenserfahrung? Vermutlich beides. Aber wie muss man sich das vorstellen? Wie entsteht also das, was wir für unsere Selbst halten? Und wie genau beeinflusst unser Unterbewusstsein, als vielleicht unsterbliche Seele, unseren Körper hinsichtlich Gesundheit oder Krankheit. Leider kann ich in diesem kurzen Artikel nicht weiter auf viele Fragen näher eingehen. Falls Interesse besteht, bin ich gerne bereit auf einige Dinge z. B. im Zusammenhang mit Krebs und Psyche näher einzugehen.
Das ist ja nett, dass F. A. Dietrich gerne näher eingegangen wäre auf seine Themenstellung und dass er »auf einige Dinge« bei Bedarf näher eingehen möchte. Aber im Fazit stellt er exakt die Fragen, die zu beantworten er uns angekündigt hatte. So ist das heute. Man kündigt groß was an. Das macht der Baumarkt auch. Doch da kriegt man, was einem versprochen wird.
Die Reise in die »geheimnisvollen Welten unseres Ichs« endet also irgendwie im Nichts und irgendwo im Nebel. Was ist Lebenserfahrung? Was das Unterbewusstsein? (Man spricht heute ja lieber vom Unbewussten). Kann man es wirklich als unsterbliche Seele bezeichnen? Was ist mit der anderen Dimension? Wo sitzt der Pianist? Recht viel mehr weiß ich ja auch nicht, aber ich erkühne mich nicht, auf 3 Seiten die Rätsel des Abendlands zu lösen … und sie dann doch ungelöst stehenzulassen. Nach solch einem Artikel weiß man weniger als zuvor, weil vieles verunklärt und verunstaltet wurde, und am besten drückt man rückwirkend den Knopf »Entf«.