Das Versprechen
Die Bewohner eines Schweizer Dorfes wollen einen Hausierer lynchen, den sie für den Mörder eines kleinen Mädchens halten. Kommissär Matthäi aus Zürich verspricht ihnen, wenn der Fall klar sei und kein Unrecht geschähe, werde er ihnen den Mann ausliefern; dann deckt er Widersprüche und Unklarheiten auf, und die Dörfler überlassen den Mann widerstrebend der Polizei. Riskantes Unternehmen; noch mal gutgegangen.
Der Staatsanwalt nennt das Versprechen denn auch »gewagt« und fügt hinzu: »Hoffentlich geben Sie nie ein Versprechen, das Sie einhalten müssen.« Das ist prophetisch, doch der Autor (hier Friedrich Dürrenmatt; sein Buch Das Versprechen von 1958) wird leicht zum Propheten, er strickt ja die Geschichte. Matthäi will den Fall lösen und verspricht der Mutter der toten Gritli, den Täter zu finden; sie verlangt, er solle »bei seiner Seligkeit« schwören, und er tut es. Damit nimmt das Unheil seinen Lauf. Die Sinnleere der Nachkriegszeit war auch in der Schweiz spürbar, der Hauch des Existenzialismus wehte auch durch Zürich.
Dürrenmatt (1921-1990) schreibt da auch über das Schreiben und über die Wirklichkeit. Er berichtet glaubhaft (in der Ich-Form), wie ihm ein Vorgesetzter Matthäis dessen tragische Geschichte mitteilt: nach einem Vortrag des Erzählers über das Schreiben von Krimis in Chur. Die grausame Pointe schildert ihm der (nun pensionierte) Kommandant in dem Restaurant »Kronenhalle« in Zürich, wobei er weitschweifig auf die Absurdität und Unwahrscheinlichkeit des Lebens sowie die Techniken der Schriftstellerei eingeht, und die Pointe in der Pointe ist, dass er sagt, dass, »Hand aufs Herz, mir Max Frisch näher liegt«.
Denn mit Max Frisch (1911-1991) saß Friedrich Dürrenmatt viele Male in der Kronenhalle, sie waren beide gefeierte Dramatiker und halbwegs Freunde und ganz Konkurrenten. Glasklar hat Dürrenmatt sie beide beschrieben und aneinander gespiegelt, als er Frisch 1986 schrieb, vier Jahre vor ihrer beider Tod: »Als einer, der so entschlossen wie Du seinen Fall zur Welt macht, bist Du mir, der ebenso hartnäckig die Welt zu seinem Fall macht, stets als Korrektur meines Schreibens vorgekommen.« Bei Frisch ging es um sein Ich, das sich in die Welt verstrickt, bei Dürrenmatt um die Welt, die sein Ich bedrängt. Und diese Welt ist undurchschaubar und unvorhersehbar; alle Geschichten sind stimmig, weil und wenn sie in der Welt der Literatur spielen, aber sie dürfen sich nicht anheischig machen, »Welt« zu spielen.
Eigentlich hatte ich nur zwei Zitate aus dem Buch bringen wollen; nun werden sie der Abspann. Im ersten führt Dürrenmatt in seine Geschichte ein, die Natur wirkt bedrohlich, alles ist noch fern und unerkennbar.
Es war immer noch nicht recht hell, obgleich schon lange Tag. Irgendwo glänzte ein Stück metallener Himmel. Sonst schoben sich nur Wolken dahin, lastend, träge, noch voll Schnee; der Winter schien diesen Teil des Landes nicht verlassen zu wollen. Die Stadt war von Bergen eingekesselt, die jedoch nichts Majestätisches aufwiesen, sondern eher Erdaufschüttungen glichen, als wäre ein unermessliches Grab ausgehoben worden. … Dann fuhren wie gegen ein größeres Dorf, vielleicht Städtchen, vorsichtig, bis auf einmal alles in der Sonne lag, in einem so mächtigen und blendenden Licht, dass die Schneeflächen zu tauen anfingen. Ein weißer Bodennebel stieg auf, der sich merkwürdig über den Schneefeldern ausmachte und mir den Anblick des Tales aufs neue entzog. Es ging wie in einem bösen Traume zu, als sollte ich dieses Land, diese Berge nie kennenlernen.
Dann, als sich alles lösen will, kommt ein Sonntag, den der Kommandant dazu nutzt, mit dem Wagen Matthäi zu besuchen. Ein schöner Sonntag in der Ostschweiz … doch auch er wirkt bei Dürrenmatt chaotisch und bedrückend.
Glockengeläute überall, das ganze Land schien zu bimmeln und zu dröhnen; dazu geriet ich noch irgendwo im Kanton Schwyz in eine Prozession. Auf der Straße ein Wagen nach dem andern, im Radio eine Predigt nach der andern. Später schoss, pfiff, knatterte und böllerte es bei jedem Dorf in den Schießständen. Alles war in monströser, sinnloser Unruhe, die ganze Ostschweiz schien in Bewegung geraten zu sein; irgendwo gab es ein Autorennen, dazu eine Menge Wagen aus der Westschweiz; man fuhr familienweise her, ganze Sippschaften rollten heran, und als ich die Tankstelle erreichte, die Sie ja auch kennen, war ich von all dem lärmenden Gottesfrieden erschöpft.