Mali vor 200 Jahren

Der westafrikanische Staat Mali ist so groß wie Frankreich, Deutschland und Italien zusammen, doch nur der südliche Teil, also ein Drittel — sagen wir: Italien — ist besiedelt. Zwei Drittel (in unserem Bild: Frankreich und Deutschland) sind Wüste: die Sahara. In Mali vor etwas mehr als 200 Jahren spielt der Roman Segu von Maryse Condé von 1984, den manipogo bereits einmal kurz vorgestellt hatte. 

mali-menschenkultur-und-landschaften-32-652bbc44-56f2-459f-977f-1b8f88a51a81Mali wird heute von 20 Millionen Menschen bewohnt. Die Frauen haben im Durchschnitt 6 Kinder, für je 100.000 Einwohner gibt es 5 Ärzte, und auf je 1000 Quadratkilometern verlaufen Straßen von 28 Kilometern Länge — das ist so, als hätte ganz Berlin nur ein Straßennetz von 25 Kilometern. Politik und Verwaltung sind ziemlich korrupt, und Drogenhändlerbanden und bewaffnete Gruppen terrorisieren die Bevölkerung, die auch unter dem Klimawandel leidet: Die ohnehin geringen Niederschläge sind in 100 Jahren um 12 Prozent zurückgegangen.

R.468e002e7e9bec799d02d588fdfac12dMaryse Condé schrieb ihren Roman über das Mali vor 200 Jahren mit ihren Königreichen Segu und Kaarta. Die am 11. Februar 1937 auf Gouadeloupe geborene Schriftstellerin erhielt 2018, als kein Nobelpreis für Literatur vergeben wurde, den Alternativen Literaturpreis der Neuen Akademie, einer Initiative von schwedischen Künstlern. Mit Segu hatte sie großen Erfolg; es ist eine Familiensaga, durchwoben von afrikanischer Magie, die bezaubern kann wie ein Marquez-Roman … ich las jeden Morgen zwei Kapitel und hatte danach Mühe, wieder in den deutschen Alltag zurückzufinden. Das Schlagwort vom »magischen Realismus« kommt einem in den Sinn, der für gewisse südamerikanische Werke der Literatur erdacht wurde, die in Deutschland Beachtung fanden; leider liegen für uns Afrika und der Orient abseits des mainstream und werden weitgehend ignoriert.

Musik dazu: vielleicht ein Konzert von Sona Jobarteh mit ihrer Band 2016 in Weimar: betörende Musik aus Westafrika.

Die Handlung beginnt 1797 mit dem adeligen Dusika Traoré, der den Segu-Machthaber Monzon Diarra berät und es zu beträchtlichem Wohlstand und einer ansehnlichen Familie gebracht hat. (Viele Kinder überall: In Mali ist die Hälfte der Bevölkerung jünger als 16 Jahre. Viel Sexualität kommt in Segu vor.) Dann wird er nach Intrigen entmachtet und erkrankt schwer. Was wird werden? Der Magier Kumaré kaut seine Wunderpaste und begibt sich auf eine Seelenreise und nimmt vorweg, was wir uns auf 630 Seiten erlesen müssen.

Donohoe_2swAls Kumaré am Ende seiner Reise in die Unterwelt aufwachte, dröhnten ihm noch die Ohren von dem Tumult, der dort geherrscht hatte: das Stöhnen von Geistern, deren Nachkommen die notwendigen Speise- und Trankopfer vernachlässigt hatten; die Klagen von Geistern, die vergeblich versucht hatten, im Körper eines männlichen Fötus wiedergeboren zu werden, und die Wutschreie von Geistern, die über die scheußlichen Verbrechen aufgebracht waren, die die Menschen ständig begingen. (…) Endlich stand ihm die Zukunft der Traoré klar vor Augen. (…) Vier Söhne, Tiékoro, Siga, Naba und der jüngste, Malobali, mussten als Geiseln betrachtet werden, als Sündenböcke, die den Launen des Schicksals ausgeliefert waren, damit nicht die ganze Familie zugrunde ging.

Das Leben dieser Vier verfolgen wir bis zum Schluss, bei dem eine Konfrontation mit dem islamischen Heer von El-Hadj Omar bevorsteht, und Maryse Condé hält sich an die historische Überlieferung und berichtet von ihm, El-Hadj Omar:

In Gemu-Banka hatte er alle Männer töten lassen. In Barumba hatte er die gesamte Bevölkerung niedergemetzelt. In Sirimana hatte er sechshundert Männer hinrichten und Tausende in die Gefangenschaft führen lassen. In Nioro und Kaarta hatte er sich besonders blutrünstig gezeigt. Zunächst hatte er den Mansa geschont, weil dieser versicherte, zum Islam übertreten zu wollen. Dann besann sich El-Hadj Omar jedoch eines anderen und ließ den Mansa vor den Augen seiner Frauen und Kinder enthaupten, bevor er auch diese hinrichten ließ. Anschließend gab er seiner Armee die Erlaubnis, die Bevölkerung zunächst mit dem blanken Säbel und dann mit den Gewehren niederzumetzeln. Die Toten waren nicht mehr zu zählen.

Segu ist auch ein Roman über den aggressiven Islam, der die Afrikaner als »Fetischgläubige« beschimpfte und genau wie das Christentum die Heiden niederzwingen wollte, um ihre Religion fest zu installieren. Die Tukulor, die 100 Jahre über Mali herrschten (bis 1899 Frankreich sich das Land schnappte, das 1960 unabhängig wurde), waren fanatische Gläubige wie heute die Taliban in Afghanistan. Das Schlagwort vom heiligen Krieg schien alles rechtfertigen zu können. Ich kenne den Koran leidlich und habe nichts darin gefunden, was den Mord an Unschuldigen rechtfertigt.

Maryse Condé: Segu. Zürich: Unionsverlag, 2012.

 

 

 

 

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