Ohne Gewalt
Zwei Bücher, die ich während Hamburg und danach las, hatten auch mit Gewaltfreiheit zu tun. Von Siegfried Lenz (1926-2014) hatte manipogo schon Der Anfang von etwas und Schweigeminute behandelt, und nun las ich die 100 Seiten der Erzählung Das Feuerschiff, erschienen 1966. Ein Feuerschiff liegt immer vor Anker, es ist ein Schiff im Ruhestand. Es gibt den sich nähernden Schiffen Signale, um sie zu warnen.
Es ist die letzte Nacht des Feuerschiffs, und Kapitän Freytag muss es hinnehmen, dass drei Verbrecher an Bord kommen und die Herrschaft an sich reißen. Doktor Caspary ist eiskalt und höflich zugleich, seine beiden Helfer willige Knechte. Sie müssen nach Dänemark, aber ihr Boot ist kaputt. Die vier Seeleute neben Freytag wollen sie angreifen, doch ihr Kapitän bremst sie: Er wolle alle heil zurückbringen. Sein Sohn Fred hält wie die Matrosen Freytag für einen Feigling und Duckmäuser. Da gibt es eine Geschichte aus Griechenland, wo der Kapitän anscheinend einen Mann an Land zurückließ, aber es war natürlich nicht so, wie es sich erzählt wird. Wir verstehen Freytag gleich besser, denn er sagt:
Ich werde dir etwas sagen, Junge: ich war nie ein Held , und ich möchte auch kein Märtyrer werden; denn beide sind mir immer verdächtig gewesen: sie starben zu einfach, sie waren auch im Tod ihrer Sache noch sicher — zu sicher, glaube ich, und das ist keine Lösung. Ich habe Männer gekannt, die starben, um damit etwas zu entscheiden, sie ließen alles zurück. Ihr Tod hat iohnen selbst geholfen, aber keinem anderen. Wer keine Waffen hat und keine Gewalt, hat immer noch mehr Möglichkeiten, und manchmal glaube ich, dass hinter diesem Wunsch, sich um jeden Preis den Gewehrmündungen anzubieten, der schlimmste Egoismus steckt.
Kapitän Freytag will jedenfalls nicht, dass sein Schiff losgemacht wird und die Kriminellen transportiert. Dafür fängt er sich eine Kugel ein; das war es, was es ihm wert war. Er hatte die Verantwortung für die Mannschaft und wurde ihr gerecht.
Das zweite Buch war von Thich Nhat Hanh: Frei sein, wo immer du bist. Es sind Vorträge, die er in einer Strafanstalt im US-Bundesstaat Maryland vor fast 20 Jahren hielt. Der vietnamesische Lehrer ist im selben Jahr wie Siegfried Lenz geboren. Er blickte zurück:
Auch ich habe schon viele Leiden durchlebt und kann euch aus eigener Erfahrung sagen, dass Mitgefühl euch aus den schwierigsten Situationen zu helfen vermag. Die Energie des Mitgefühls kann uns … einen Ausweg öffnen. Es gab eine Zeit, da wir in der Absicht, den so genannten Boat-People, Kriegsflüchtlingen aus Vietnam, zu helfen, mit Rettungsbooten in den Golf von Siam aufbrachen. Die vielen gewaltbereiten Piraten in dieser Region machten diese Arbeit auch für uns selbst sehr gefährlich. Im festen Vertrauen jedoch, dass Mitgefühl und nicht Gewalt das beste Mittel ist, uns selbst zu schützen, hatten wir niemals Waffen an Bord — wir hatten nur Mitgefühl. Nach der Lehre und der Praxis, denen ich vertraue, ist Mitgefühl das beste Mittel, um sich selbst zu schützen.
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Da entnahm ich unlängst der Überschrift einer örtlichen Zeitung, dass in unseren Tagen Bürgermeister und Abgeordnete zuweilen tätlich angegriffen werden. (Häufiger jedoch sind Angriffe verbaler Art über die sozialen Medien.) Dass Rettungskräfte und Polizisten auch sich gegen Attacken wehren müssen, hatte man schon öfter gelesen. Es kann nicht nur dem Dämon Alkohol zugeschrieben werden. Was ist das für eine versteckte Aggressivität, die sich auf Vertreter der öffentlichen Ordnung richtet? Wer ist da gemeint, und was ist das für eine seltsame Wut? Was fehlt den Angreifern? Warum können sie sich nicht anders artikulieren? Darauf muss diese Gesellschaft eine Antwort finden.