Der Drache

Drachen existieren nicht und haben nie existiert. So fängt Ernest Ingersoll sein Buch Dragons and Dragon Lore an (1928). Soll man nun zu lesen aufhören? Warum hat der Mann 100 Seiten darüber geschrieben? Chinesen und Japaner feiern den Drachen und führen ihn in 70 Meter langen Modellen vor, in Märchen tritt er auf — also gibt es ihn doch!? Eine bildhafte Vorstellung, ein Mythos, hat einen Namen erhalten, der weiterlebt.

DSCN3936Manipogo ist ja auch ein Fabelwesen (im Lake Manitoba in Kanada), das nie jemand gesehen hat. Gerüchte und vage Sichtungen haben ihn erschaffen. Der Manipogo ist unsichtbar und unergründlich wie dieser Blog, den keiner kennt, der aber existiert. Mit dem Monster von Loch Ness ist es genauso.

Tiamat hieß ein Monster im alten Babylonien 3000 Jahre vor Christus, schlangenähnlich und bekämpft vom guten Marduk. Im alten Ägypten gab es den Krokodilgott Sobek, während die Inder im Norden ihres Landes Naga verehrten, die Kobra. Der Glaube scheint, durch Buddhisten und Taoisten gefördert, nach China eingedrungen zu sein und führte zum Drachen, dem Lung. Es gibt — analog zu den Nagas — den himmlischen Drachen, der die Götter bewacht, den spirituellen, der die Winde blasen lässt, den Erddrachen, der den Lauf von Flüssen bezeichnet und den versteckten Drachen, der im Erdinneren Schätze hütet.

Generell ist der Drache jedoch ein Herr über das Wasser und entsteht aus den Wolken. »Herr über das Wasser« ist indes irreführend; bei den Chinesen ist der Drache eher Yin, also das Weibliche, weil es immer mit Wasser in Verbindung gebracht wurde. Früher gab es ja den üblen Begriff vom »Hausdrachen«, gemünzt auf eine herrschsüchtige Frau, und schon 1667 sagt in Molières Die wissenden Frauen (kommt am 8. März) Chrysale über seine despotische Frau Philaminte:

Ich zittere, wenn sie spricht über ernste Sachen,
und weiß nicht warum, sie ist ein wahrer Drachen.
(im Original: »c’est un vrai dragon«)

2022-01-23-0002In China und Japan wird er seit frühester Zeit verehrt und verantwortlich gehalten für Fluten und Stürme und Tornados. Legendär sind die langen feuerroten oder bunten Drachen, die viele Festivals begleiten. In Japan kennt man eine große Familie unterschiedlicher Drachen, die immer männlich sind. Brecht übersetzte von Po Chü-yi:

… Es heißt, ein sehr heiliger Drache 
Wohne hier. Kein menschliches Auge
Hat ihn je gesehen … Ein Drache
Bleibt vielleicht ein Drache, aber die Menschen
Können aus ihm einen Gott machen.

In Europa muss man die Hydra aus Homers Werken erwähnen, einen Wurm mit mehreren Köpfen (vielleicht sogar 50 bis 100), und wurde einer abgeschlagen, wuchs er sogleich wieder nach. Die Schimäre hatte einen Löwen- und einen Ziegenkopf (und andere), die aus einem Schlangenkörper hervorwuchsen. Sie war praktisch unbesiegbar. — Als Sinnbild des Bösen drang der Drache allmählich in die Märchen ein, und christliche Märtyrer und Heilige werden oft mit Drachen abgebildet, die ihnen zu Füßen liegen und besiegt worden waren — als wären sie der Egoismus und niedere Instinkte oder der Hass der Welt. Der heilige Georg ist der berühmteste Drachentöter.

2022-01-23-0004Immer muss im Märchen ein Held den Drachen töten, um eine von ihm unterjochte Gegend zu befreien. Von Heldentaten träumt man immer gern, und je mehr gefaucht und Feuer gespien wird, umso besser. Im Wilhelm Tell von Schiller erzählt Werner Stauffacher von seinen Vorfahren:

Die Brut des Drachen haben wir getötet,
Der aus den Sümpfen giftgeschwollen stieg.

Der Mythos ist gern plakativ und lenkt vom eigentlichen Problem ab. Da können wir mal wieder Brecht zitieren, aus Mahagonny:

Wir brauchen keinen Hurrikan
Wir brauchen keinen Taifun
Denn was er an Schrecken tun kann
Das können wir selber tun.

 

Oder (meine Version):

Was Böses tut ein böser Drache,
das können wir besser, dass ich nicht lache.

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