Kauderwelsch
Der spanische Schriftsteller Jorge Semprun (1923-2011) nannte seinen Roman aus dem Jahr 1981 Algarabía, was »Kauderwelsch« bedeutet, und vielleicht war es selbstironisch gemeint. Das Buch hat eine abenteuerliche Konstruktion, mit der ich selber versuche klarzukommen, aber beim Schreiben für manipogo wird mir das schon klar werden. Der Erzähler stirbt. Geht eigentlich gar nicht.
Der Held des Romans heißt Rafael Artigas, doch der Erzähler heißt eigentlich anders, wie er durchblicken lässt. Die Geschichte spielt im zerstörten Paris, das im Bürgerkrieg steht (Babel-Algarabía), genauer: am linken Seine-Ufer der Stadt, in der utopischen populären Zone (Z.U.P.), und sie spielt an einem Tag im Oktober 1975. Im Buch heißt es auf Seite 38 schon:
Artigas kann dessen Sinn noch nicht voll erfassen, denn er weiß noch nicht, dass dieser beginnende Tag der letzte seines Lebens ist.
400 Seiten später wird er vom Tod überrascht, Kugeln durchbohren ihn, er denkt noch an Pola Negri, den polnischen Stummfilm-Star (der ganze Roman ist von Erotik durchtränkt) und haucht sein Leben aus.
Dann kommen nur noch die 10 Seiten von Kapitel 10. Artigas‘ Freund Carlos liest, sechs Jahre nach dem schicksalsschweren Tag, das Manuskript, das ihm Elizabeth von Rüdigen aus Ascona zugeschickt hat — und das wir soeben gelesen haben (sollten). Elizabeth hatte ein Tonband eingeschaltet, als Rafael Artigas ihr einen ganz detaillierten Plan seines Romans darlegte. »Danach brauchte man ihn nur noch zu schreiben, und das hatten sie getan.« Carlos befallen Gewissensbisse:
Hatten sie recht gehabt, Elizabeth und er, dieses Wahnsinnsunternehmen zu versuchen: an der Stelle eines Toten zu schreiben, in seinem ausgelöschten Namen?
Artigas hätte vielleicht noch mehr zu sagen gehabt, hätte das Manuskript womöglich nicht für abeschlossen gehalten … Dann muss Carlos lachen.
Denn was den Roman von Artigas abschließt, ist sein Tod. Wenn er weitergelebt hätte, hätte er ihn … sicher niemals zu Ende schreiben können. Das war buchstäblich ein unabschließbarer Roman, ein unendliches Unternehmen, seinen eigenen Tod zu erzählen, während man noch lebte.
Also endet der Roman mit Carlos in der Oktobersonne 1981 in einem Restaurant und mit den Worten:
Der Roman ist zu Ende, wir sind in die traurige Wirklichkeit zurückgekehrt, verstehe wer kann.
Ein Problem des Buches ist sicherlich die Erzählhaltung. Artigas wird von außen geschildert, von einem Dritten, als verfolgte ihn eine Kamera; er erzählt also nicht sein eigenes Leben, sonst würde er »ich« sagen. Und warum sollte ich bei Lebzeiten nicht meinen Tod schildern können? Vielleicht habe ich ihn bereits geträumt, präkognitiv, und weiß, dass er so eintreten wird? Oder ich schildere ihn spontan und weiß nicht, dass diese Eingebung vorhersagt, was geschehen wird? (Da müsste man jetzt ein Beispiel haben … Pasolini hat, glaube ich, in dem Buch Petrolio die Umstände seines späteren Todes geschildert.)
Und zur »traurigen Wirklichkeit«: Ein realistischer und agnostischer Autor sieht das wohl so. Für ihn gibt es nur die Romanwelt und — die Welt. Dennoch: Man kann auch aus einer anderen Dimension seinen Tod schildern, nachdem man gestorben ist, und man kann von drüben ganze Manuskripte schicken, wie es Frank Stockton, Mark Twain und Charles Dickens getan haben, aber, wie ich im Stockton-Beitrag schrieb, ist nicht erwiesen, dass sie es tatsächlich waren.
Wir, wir Spiritualisten (so sage ich mal), wir glauben, dass der Tod überschätzt wird. Man muss ihn nicht für das Ende aller Dinge halten und ihn nicht mit düsterer Miene im Mund führen. Wer weiterschreiben will, soll sich eine medial begabte Sekretärin suchen. Oder wiederkommen.