Gegen das Absolute
Eine Abschweifung muss noch sein. Das Phänomen des Farbensehens stellen wir in einen größeren Zusammenhang, was das Thema dieses Beitrags ist. Wir müssen den Kontext mitliefern, wenn wir etwas erzählen und uns vom Absoluten fernhalten; war ja schon der Absolutismus (die Herrschaft eines großmächtigen Königs) eine Verirrung.
Adeline Grand-Clément, die das Thema des Farbensehens bei Homer behandelt hat, sagt uns, etwas wahrzunehmen und etwas zu bezeichnen sei nicht dasselbe. Zwischen Wahrnehmung und Bezeichnung schieben sich drei Filter. Da ist erstens die Sprache selbst. Das Griechische hat ein anderes Farbenspektrum, ihr Rot ist nicht das unsrige. Und dann hat jede Kultur ihre eigene kollektive Vorstellungswelt. Jede sieht die Außenwelt in ihrer Weise, und das schlägt sich nieder. Und dann muss man noch berücksichtigen, für wen und warum der Text geschrieben wurde …
Auch ohne diese Gedanken kann man sagen, dass es keinen Sinn hat, Farben in absoluter Weise zu nennen. Erst jetzt fiel mir auf, wie viele verschiedene Schattierungen von Rot es doch gibt! Auch Gelb ist nicht immer reines Gelb: Hier ist etwas Braun hineingemischt, dort etwas Grün, und zu sagen, etwas sei rot, ist nur eine grobe Annäherung und einfach ein Werkzeug unserer Kommunikation. Um exakt zu sein, müsste ich entweder eine Farbskala haben oder weitschweifig die gemeinte Farbe erläutern. (Bild rechts: Die Mutti im Vitra Design Museum in Weil am Rhein, 2011.)
Das Absolute trat ja immer weiter in den Hintergrund. Erst wurde uns klargemacht, dass unser Planet — noch vor 600 Jahren als Zentrum des Alls gesehen — nur eine kleine sich drehende Wohnsiedlung in einem Randbezirk einer von vielen Galaxien ist, dann kamen die Realitivtätstheorie, die Quantenmechanik (Prozesse laufen nicht einfach objektiv ab, sondern sind vom Beobachter abhängig) und die Chaostheorie. Und wir lernten, dass wir nicht wissen, wie die Welt dort draußen ist, sondern dass wir selbst sie wahrnehmen, beschreiben und gestalten. Es gibt nichts Objektives.
Und nun stellen wir uns vor, ich erzähle jemandem eine Geschichte, die in der Firma passiert ist, anekdotenhaft, in ein paar Sätzen. Bei meinem Gesprächspartner entsteht ein Eindruck und werden Gefühle hervorgerufen, … die ich vielleicht nicht gewollt habe. Um die Geschichte genau zu schildern, müsste ich bei Adam und Eva anfangen und jede Nuance des Geschehnisses darstellen, um dem gerecht zu werden, was geschehen ist: eine Unmöglichkeit. Das Gegenüber hat nur die paar dürren Sätze, die in der leeren Luft hängen, und reagiert darauf. (Illustration: Giovanna und Fritz, a long time ago, 2007.)
Aber so ist das Leben. Wir missverstehen uns andauernd, weil wir etwas verfälscht oder verkürzt darstellen (müssen). Wir wollen uns ja nur schnell verständigen und keine philosophische Doktorarbeit aus einer Anekdote machen. Probleme sind vorprogrammiert, das liegt in der Natur der Sache. Wenn ich einen Roman schreibe, ist das etwas Anderes: Ich schaffe den ganzen Kontext und die Atmosphäre, die Leserinnen und Leser leben darin und leben richtig, weil alles Fiktion ist und jeder sich vorstellen darf, was er will.
Wenn die Sprache allerdings Ereignisse der realen Welt abbildet, treten notgedrungen Verzerrungen auf. Wir können uns nur bemühen, möglichst neutral zu berichten und den Kontext mitzuliefern, in dem das Geschehene geschehen ist. Dabei kann ich mich auf unsere gemeinsame Bilderwelt und Geschichte verlassen. Aber wenn ich — etwa als Korrespondent — aus einer fremden Welt berichte (Indien/Zentralafrika), muss ich das Rätselhafte übersetzen oder Hintergründe mitliefern; das versuche ich ja ständig als Korrespondent der Geistigen Welt. Überhaupt finde ich, dass der Gedanke an die künftige Welt der Kontext sein sollte, in dem die unsere gesehen wird. Lichtenberg hat einmal gesagt: »Wer nur die Chemie versteht, versteht auch die Chemie nicht.« Wer nur diese Welt kennt, treibt an der Oberfläche dahin und kann nichts verstehen.