Vāstu

Kehren wir zurück zu Drache und Tiger und einer harmonisch zu gestaltenden Umwelt. Das Pendant zum chinesischen Feng Shui heißt in Indien Vāstu. Die Lehre ist etwa 2000 Jahre alt, ihre Anfänge liegen noch weiter zurück, und vielleicht ist Wissensgut von Indien nach China gelangt. Vāstu hat ähnliche Ziele und strebt nach Perfektion. Es gibt Parallelen, aber auch Unterschiede, jedoch in Indien keinen Drachen und Tiger.

20180919_123735_002Ich will einfach schildern, was ich mir über Vāstu aufnotiert habe aus dem gleichnamigen schönen Band von Giulia R. M. Bellentani und Francesco Paolo Campione. Vāstu ist ein Sanskrit-Wort und bedeutet Umgebung, Natur, Umwelt.

In den vier Himmelsrichtungen entstehen vier Architekten, von denen Maya im Süden und Manu im Westen am interessantesten sind. Manu war der erste Mensch, und Maya hat der Maya-Schule seinen Namen gegeben. In ihrem Lehrbuch des Südens steht:

Ein Land, das im Osten flach ist und sich im Westen erhebt, heißt Govīthi (Weg der Kühe), und die Bewohner gedeihen. 

Das ist nun genau entgegengesetzt zum chinesischen Feng Shui, wo der Drache auf dem Berg im Osten sitzen und der Westen mit dem Tiger niedriger liegen soll. Ein Land niedrig im Norden und hoch im Süden bringt in Indien Wohlstand, und niedrig im Nordosten und hoch im Südosten ist auch gut. Alle anderen Möglichkeiten sind schlecht.

20180926_110042Die Erde muss befestigt werden, der veränderbare Kreis wird zum stabilen Quadrat, dem Bild der himmlischen Perfektion. In die Erde wird vor dem Bauen ein Pfeiler eingelassen, etwas wie eine axis mundi: ein Pfosten, der die Schöpfung stützt. Dieser Pfosten symbolisiert den ersten Schritt beim Übergang von Undifferenzierten zum Manifesten. Die Inder halten die Einheit der Schöpfung für deren innersten Essenz: Alles ist eins. Die Teilung in Millionen Objekte und Menschen ist maya, ist Täuschung. Jedes einzelne Werk ist maya. In maya lebt, wer diese Welt für die einzig richtige hält und nichts außerhalb von ihr zu erkennen vermag.

Dann gibt es noch einen wichtigen Begriff: . Er bedeutet messen, aber auch vorbereiten, schaffen, konstruieren, zeigen. »Messen heißt, einer Sache Form und Existenz zu verleihen«, wird im Vāyupurona betont. Auf der Quantenebene etwa gibt es kein Phänomen, solange es nicht gemessen wird. Alles ist im Fluss, alles ist in Bewegung. Das Messen erst schafft ein Faktum. Dazu hatten wir schon mal was, das hieß Messen und Bauen und heilige Zahlen.

Im Lehrbuch des Südens steht hierzu:

Wenn die Maße des Tempels in jeder Hinsicht perfekt sind, wird im ganzen Universum Perfektion herrschen.

Indien 086Das Kleine als Abbild des Großen! Der Tempel (oder das Bauwerk) wird in 64 quadratische Mandalas unterteilt, und der Puruşa —ein weiterer zentraler Begriff — ist mit seinem Körper das Gesamtmandala. Puruşa und der Ort und seine Bewohner werden auf magische Weise eins — und Harmonie sollten im Mikro- und Makrokosmos herrschen.

Der Klang wird auch berücksichtigt. Der Urklang, der absolute Ton ist das ōm (aum), das wir als bekanntestes Mantra kennen. Der Klang ist ein Material, und beim Bauen wird immer gebetet und gesungen. Es wird sogar ein vedischer Altar errichtet, der nur aus Mantras besteht und nichts Materielles an sich hat: ein symbolischer Altar.

Das Ziel von all dem ist die harmonische Einheit der Teile sowie ihre Neukomposition, um sie wieder ins Absolute einzugliedern. Das ist ein Beispiel für eine uns völlig fremde Ideenwelt, und Rabindranath Tagore, der indische Literatur-Nobelpreisträger, hat einmal Indien und Europa einander gegenübergestellt. Indien sei die Nacht, die Einsamkeit, die Stille, der Geist, das Weibliche, die Empfindamkeit, die Poesie; Europa ordnet er zu den Tag, die Menge, den Lärm, die Welt, das Männliche, die Grausamkeit und die Prosa. Das ist eine Idealsicht, die vor 100 Jahren viellleicht noch gültig war, aber es ist was dran.

(Fotos: G. Braghetti, I. Scherer)

 


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