Das Gefängnis
Beenden wir diese Kette von Beiträgen, die mit Vergib mir begann, mit dem Buch, das ich in der Ärztinnenpraxis aufgabelte: Das Gefängnis von Georges Simenon (1903-1989). Ich hab’s an drei Vormittagen gelesen, es waren ja nur 200 Seiten, und — es hat mich inspiriert (be-geistert). Man sagt ja, Simenon habe so ein Buch an drei Vormittagen geschrieben. Sein Werk umfasst 75 Krimis um Kommissar Maigret, 100 weitere Romane, 150 Erzählungen und 1000 Kurzgeschichten.
Das Zitat jedoch, das sich mir anbot, hatte Schieflage. Da hieß es: »Sie hat mich um Verzeihung gebeten.« Wer es sagt, ist Alain Poitaud, Chef der äußerst erfolgreichen Pariser Publikumszeitschrift Toi (Du), und er sagt es über seine Frau Jacqueline, die am Tag zuvor ihre Schwester Adrienne erschossen hat und danach kaum eine Regung zeigte. Jacqueline sagte wörtlich zu ihrem Mann »Sorry, dass ich dir Unannehmlichkeiten bereitet habe«. Um Verzeihung bitten ist etwas Anderes, das ist schwer und bedeutend. Hier ist es nur ein hingeworfenes »Sorry«.
Da dachte ich an eine Anekdote. Ein Autor hat in einem Artikel einen anderen beleidigt und ist vom Richter verurteilt worden, sich bei dem Mann zu entschuldigen. Dafür wird der Beleidigte in einem Hotelzimmer warten. Der Autor klopft an, tritt ein, fragt »Wohnt hier eine Madame Delavre?«, erhält als Antwort »nein« und reagiert darauf mit: »Dann entschuldigen Sie bitte.« Formell hat er sich entschuldigt, doch er verstieß gegen den Geist des Urteils — wie es jeder tut, der eine Gesetzeslücke nutzt oder mit einem Trick ein Gesetz aushebelt. Da haben wir den Geist in der Bedeutung von Sinn, Absicht, Motiv. Der Geist ist die Kraft und die Wahrheit hinter und unter den Worten, ist sozusagen die Essenz, wie der Geist des Weines dessen (alkoholstarkes) Geheimnis ist.
Poitaud ist erst 32 Jahre alt und gehört schon zu den besseren Kreisen. Jacqueline, die er »Chaton« nennt (Kätzchen), ist auch Journalistin, freiberuflich. Ihre Schwester Adrienne ist mit einem wichtigen Chef der Banque de France verheiratet. Beide haben eine große Wohnung in Paris und dann noch ein Sommerhaus. (Ich habe mich gefragt, warum die Filme von Claude Chabrol und viele Bücher in höheren Kreisen spielen. Sind die Autoren mit einfachen Leuten nicht vertraut? Ist der »Geldadel« das, was sie anzieht?) Alain und Jacqueline haben außerdem einen 5-jährigen Sohn. Es regnet dauernd in Paris. Da steht am Abend ein Inspektor vor der Tür und eröffnet ihm, was Jacqueline getan hat. Unerklärlich.
Alain geht seiner Wege, trinkt in Bars seinen doppelten Scotch und geht erstmal nicht in die Zeitschrift. Er hatte ja ein Verhältnis mit Adrienne, doch das endete vor einem Jahr. Eifersucht fällt weg; außer, es hätte da einen anderen gegeben, den beide Frauen liebten … Alain glaubt das nicht, doch der wendige Kommissar findet es heraus: Julien Bour ist es, der unauffällige Fotograf mit der stets zerknitterten Kleidung. Der? »Frauen brauchen oft einen schwächeren Partner, den sie verhätscheln können«, meint der Kommissar.
Ich glaube, diese Information wirft Alain aus der Bahn, der sich immer für einen Sieger hielt. Er geht in sich. Jacqueline war immer neben ihm, immer präsent, denn er brauchte sie bei sich, und er brauchte Menschen um sich, die er gönnerhaft mit »Schnuckelchen« titulierte. Er wurde geachtet und gab sich stark, doch eigentlich war er schwach; und der, der seine Schwäche nicht verbarg (Bour), war eigentlich der Starke.
Plötzlich fühlt sich Alain weit weg von der Welt. Alle rennen umher und sind einsam. Was wollte er und was hat er erreicht? Nichts. Obwohl er reich und einflussreich geworden ist. Alles ist ihm unter den Händen zerronnen.
Alain besucht den Fotografen und geht ratlos wieder weg. Er weiß: Er hatte Angst vor anderen. Er hat sich versteckt — und das Gefängnis des Titels ist nicht das, in dem Jacqueline sitzt, sondern das von ihm für sich geschaffene Leben. Die falsche Munterkeit. Die falsche Intimität, die seine Zeitschrit schuf. Es war alles falsch. Seltsam aber: Er, der fast reflexartig mit Frauen schlief (es sind die 1960-er Jahre, das spüren wir), tut es plötzlich ganz zärtlich mit seiner neuen Hausangestellten. Einen Tag lang trinkt er nichts mehr. Doch es nagt an ihm.
Er fand sich idiotisch, genauso idiotisch wie die Artikel in Toi. … Und einen Neuanfang … Wo sollte er anfangen …? Womit …?
Das denkt Alain Poitaud drei Seiten vor Schluss. Er gießt sich einige Scotch ein, betrinkt sich, und dann rast er mit seinem Jaguar an einen Baum.
Gefällt mir nicht, dieses Ende. Ich dachte mir: Warum nicht ein anderes Ende schreiben? (Bin zu faul dazu; aber dieser Gedanke hat mich letzten Endes zu dem Beitrag motiviert.) Leben in Büchern sind Leben in Büchern und könnten anders weitergehen.
Etwa: Alain geht in die Firma und schreibt einen letzten Artikel für Toi, in dem er seinen Abschied verkündet; er könne sich mit der Zeitschrift nicht mehr identifizieren. Er verkauft sein Apartment, packt seinen Sohn ins Auto und fährt zum Atlantik. Dort mietet er eine Wohnung, geht viel am Strand spazieren und spielt mit seinem Sohn. Alain kann sich Zeit lassen, Reisen machen oder zum Fischen gehen, was soll der Stress. Für einen Neuanfang braucht es Geduld.
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Ach ja, heute hat Frankreich gewählt. Hoffen wir mal, dass wir da keinen Neuanfang brauchen; oder dass Macron in sich geht und seine zweite Amtszeit besser machen will als die erste. Frau Le Pen brauchen wir im Nachbarland bestimmt nicht; Neuanfänge von Rechts sind immer Rückfälle in alte Zeiten und beschädigen immer die Menschen der unteren Schichten. Macron ist zwar auch Elite (wie die meisten Leute bei Simenon und Chabrol), aber da wissen wir, was wir kriegen.