Der Großtyrann und das Gericht

Furchteinflößend klingt dieser Titel, und so nannte Werner Bergengruen (1892-1964) seinen 1935 erschienenen Roman, der alles über die Diktatur des Nazifaschismus in Deutschland sagte, was aber nicht verstanden wurde, weil der Autor alles zu stark verschlüsselte; und wäre es verstanden worden, hätten die Nazis das Buch verboten und Bergengruen verjagt oder umbringen lassen. Heute können wir darüber nachdenken.

In dem berühmten Buch des Taoismus Tao te King, von Laotse (551-479 vor Christus) geschrieben, lesen wir in Kapitel XVII des ersten Buches (von zwei):

Der beste aller Herrscher ist für seine Untertanen nur ein schattenhaftes Wesen.
Als nächstes kommt der Herrscher, den sie lieben und ehren;
als nächstes kommt einer, den sie fürchten …

DSCN4562Der Großtyrann wird gefürchtet. Er herrscht über eine italienische Region im späten Mittelalter, Genaueres sagt uns der Autor nicht. Ein Mord ist geschehen. Fra Agostino, ein Mönch und Diplomat, wurde getötet. Der Großtyrann fordert von Massimo Nespoli, dem Chef seiner Geheimpolizei, er müsse in drei Tagen ihm den Mörder präsentieren, andernfalls werde sein Kopf vom Körper getrennt. Monna Vittoria, Nespolis Geliebte, will ihn retten. Da ihr Mann gerade am Fieber gestorben ist, fingiert sie einen Brief, in dem der Gestorbene seine Schuld am Mord bekennt. Nun droht der Großtyrann, die Güter ihres Mannes zu beschlagnahmen, was Vittoria in die Armut treiben würde. Eine Verdrehung der Wahrheit führt zur nächsten Lüge, totale Verwirrung tritt auf, und nach wenigen Wochen ist das ganze Land ein Hexenkessel von Gerüchten und Anschuldigungen. Der Großtyrann sagt zum Priester Don Luca:

Nicht in Verwirrung will ich dich führen, sondern in Versuchung. Aber ich führe dich in Versuchung, das Rechte und Fromme zu tun. Der Teufel hingegen will dich versuchen, nur an dein ungefährdetes Gewissen zu denken. 

Und doch ist der Großtyrann ein philosophisch denkender Teufel. Er ist »lauersam«; da er überaus klug ist, verwirrt er die Leute, die nicht mehr wissen, was sie sagen wollen und sollen, damit sie nicht belangt werden. Sie verstricken sich immer mehr in übles Tun und trachten nur danach, ihre Haut zu retten. Nespoli wird verschont, aber von Monna Vittoria will er auch nichts mehr wissen, um von ihr nicht völlig vereinnahmt zu werden. Es sind Egoismus und Besitzgier (und die Angst, Besitz zu verlieren), die die Leute antreiben. Männer meinen, ihre Partnerin zu besitzen, man hängt an seinem irdischen Gut, und man hängt vor allem am Leben. Die Angst vor dem Tod steckte hinter den Corona-Jahren, und die Medizin tut alles, um zu unsäglichen Kosten einem Todkranken noch zwei qualvolle Wochen mehr auf Erden zu schenken. Loslassenkönnen gehört nicht zum Repertoire des westlichen Menschen.

DSCN0959Der Nationalsozialismus herrschte ab 1933 in Deutschland. Die Nazis regierten mit Drohungen und Übergriffen gegen Schwächere. Viele unterlagen der Versuchung: Sie denunzierten andere, um nicht selbst angeklagt zu werden; sie ließen Ungerechtigkeiten zu, um unbehelligt leben zu können; sie schwiegen, wo sie schreien hätten sollen. Schon nach wenigen Jahren war ein ungesundes Klima entstanden, in dem die Juden als die Sündenböcke dienten, und niemand ahnte, welch schreckliches Schicksal ihnen drohen sollte.

In dem Roman rettet ein schlichtes Gemüt, das die Schuld auf sich nimmt, die Lage. Beim abschließenden Gericht erhebt sich Don Luca und wirft dem Großtyrannen vor, er habe sich vermessen: Er habe Gott spielen wollen. Und der Diktator sieht es ein und bittet um Vergebung. Im Deutschland des Nationalsozialismus schwieg die Kirche, keiner stand auf, die Angst (vor dem Verlust des Eigentums) durchsetzte alles, der vorhergesagte Krieg wurde zur selbsterfüllenden Prophezeiung, und am Ende stand die absolute Katastrophe.

 

 

 

 

 

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