Oswin Agathon Link

Vor einem Monat habe ich einen Freund verloren. Es dauerte einige Tage, bis ich begriff, dass ich nie mehr dem guten alten Oswin Link bei einer Schachpartie gegenübersitzen würde. Er starb mit 91 Jahren auf den Tag genau ein Jahr nach meiner Mutter: am 17. April. Dieses Datum wird für mich künftig ein spezieller Gedenktag sein. Oswin war ein Querkopf, ein sturer Bock, ein Neinsager. Von solchen Leuten bräuchten wir mehr.

Unten seht ihr einen Ausschnitt der Todesanzeige in der Badischen Zeitung. Der Satz, der über seinem Namen steht, hat Stil: Es war seine letzte Fahrt. Auch Skipionier und Freigeist klingen schön altertümlich, treffen aber sein Leben. Oswin war mit seiner Frau viel gereist und betrieb viel Sport, und dass er nach einem Schlaganfall (er konnte die rechte Hand nicht mehr benutzen) im Altenpflegeheim in Staufen landete, war hart für ihn. Der Mann mit dem ungewöhnlichen, unerhörten zweiten Vornamen legte sich ein Elektromobil zu und fuhr jeden Nachmittag, wenn es das Wetter zuließ, in der Gegend umher, und manchmal traf ich ihn, wenn ich mit dem Rad unterwegs war. Agathon war übrigens ein griechischer Tragödienautor, der bei Platon (im Symposion) als schöner junger Mann und als Begleiter (und wohl Liebhaber) des Reiseautors Pausanias geschildert wird. Die Werke Agathons sind verlorengegangen.

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Im Sommer (dachte ich mir) müssten wir ja nicht immer Schach spielen, wir könnten auch mal draußen ein Bier trinken. Dazu wird es nun nicht mehr kommen, aber klar: besser für ihn. Nun ist er frei und kann herumfliegen, ist vermutlich wieder bei seiner Frau und freut sich des neuen Lebens. Wer weiß, dass es weitergeht, kann nicht viel trauern. Vor Ostern hatte ich noch eine Karte für ihn im Altenheim abgegeben, ihm frohe Ostern gewünscht und ein Treffen für die Tage nach Ostern angekündigt … und es war eine Karte mit Frida Kahlo im weißen Kleid und Blut vor den Augen: vielleicht eine Vorahnung.

Nach Ostern schrieb ich auf eine Karte:

Lieber Oswin! Das Wetter ist Mittwoch und Donnerstag zu schön, aber am Sonntag soll es regnen. Ich komme dann um 15 Uhr zu dir, viele Grüße ciao Mani.  

Er selber hatte mir an meinem Geburtstag ein Brieflein überreicht, das überschrieben war mit »Guter Freund«. Als ich dann meine nachösterliche Karte an der Rezeption des Heims abgeben wollte, sagte die Dame: »Herr Link ist tot.« Ich riss weit meine Augen auf: Das war ein Schlag. Oswin war vermutlich am Ostersamstag ausgefahren, zu einer Straußi, und auf dem Rückweg kam er mit seinem neuen Elektromobil, das ihm noch nicht richtig vertraut war, vom Weg ab und stürzte in einen Graben. Schwere Hirnblutung, Tod im Krankenhaus.

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Zwei Jahre hatten wir gegeneinander gespielt, und nach vielen Unentschieden (meist 2:2) ging es diesen Winter und im jungen Frühjahr durcheinander. Ich war  unkonzentriert und verlor oft (1:3, zuletzt sogar 0:4), doch bei unserem letzten Duell schlug ich Oswin 3:0. Er überraschte mich manchmal mit einem raschen Matt, doch im Mittelspiel übersah er manchmal den siegreichen Zug, und im Endspiel war ich konsequenter. Oswin sagte immer: »Es geht nicht um den Sieg — ein schönes Spiel soll es sein!« Beim letzten Treffen war das Mittelfeld mehrere Male abgeriegelt, und ich schlug mich auf dem rechten Flügel erfolgreich durch; wie gut ich mich noch daran erinnere! »Was trinken wir?« fragte er irgendwann immer, und wir teilten uns ein Bier, und vor der Heimfahrt genehmigte ich mir bei ihm noch einen Schnaps. (Bild oben: Marostica in der Nähe von Vicenza. Auf dem Hauptplatz wird alle zwei Jahre ein Schachspiel mit lebenden Figuren ausgetragen, in Erinnerung an eine solche Partie 1454, in der es um die Tochter des Burgherrn ging) 

Ich habe auf einem kleinen Tisch mein Schachspiel aufgebaut in der Hoffnung, in meiner Abwesenheit würde Oswins Geist mal eine Figur bewegen: Geister haben immer Weiß; er spielte immer e2-e4 (ich fing gern mit dem Damenbauern an). Und ich erinnere an das Schachspiel mit dem Jenseits, das in der Frühzeit von manipogo in der zweiten Hälfte des Beitrags Hinter den Schleinern: Jenseitsforschung (I) wiedergegeben ist. Das lohnt unbedingt die Lektüre! Im September 2019 hatte ich unsere Begegnungen in Staufen auch erwähnt.

Jedes Ende ist en Anfang. Wie wird Oswin Agathon seinen ersten Flug über Kontinente genossen haben! Wie wird er — wieder jung und beweglich wie Agathon — gejubelt haben!

 

 

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