TestpilotInnen (15): Tatjana und Celestina
Um mit dem Russischen vertrauter zu werden, begann ich das Buch Celestina von Tatjana Nedswezkaya zu lesen — und fand eine interessante Todeserfahrung, die lang war, aber irgendwie anders … und ich übersetzte sie, was eine gute Übung ist. Allerdings: Es könnte auch ein literarisches Produkt sein und keine wahre Erfahrung, das müssen wir offenlassen; es ist aber so crazy, als wäre es echt. Freuen wir uns einfach daran, denn es passiert was …
Über die Autorin weiß die Suchmaschine nichts. Ich musste Татъяна недзвецкя eingeben und fand tatsächlich eine Seite. Die Autorin, deren Buch Celestina 1999 erschien, bietet da vier weitere Bücher an, unter denen die Titel Raw Porno und Farce sind. Mein Buch stand irgendwo in einem Second-Hand-Regal, sah wie ein Märchenbuch aus, und die Lettern waren schön groß: gut zu lesen. Es fing auch gut an: Die Erzählerin lernt die verrückte Lera kennen, dann die vernünftige Inga und noch die verrückte Alessia, die sie Celestina nennt. Alle drei gabelt sie mit ihrem Auto auf, das dann bei ihrer Erfahrung eine wichtige Rolle spielt.
Tatjana Nedswezkaya schildert ihre Freundinnen mit einer Liebe und Leidenschaft, wie man es sogar von Männern selten liest. Celestina raucht eine Zigarette nach der anderen, hängt ziemlich herum, und einmal sagt sie: »Ich habe Lust zu tanzen!« Also ins Auto und ab. Sie fahren.
(Also nun meine Übersetzung. Manche Wörter findet man im Wörterbuch nicht, man muss kombinieren; manche Sätze ergeben keinen Sinn — und dann errät man aus dem Kontext doch einen. Na ja, lesbar ist es, korrekt zu 80 Prozent.)
Fünf Minuten später kam es mir vor, als griffen die Reifen des Autos nicht mehr richtig. Ich kurbelte langsam die Scheibe herunter und schaute aus dem Fenster. Totale Schwärze. Sterne sah ich keine. Der Mond war hinter Wolken. Der Wagen bewegte sich mit derartiger Geschwindigkeit, dass es mich in den Sitz presste wie im Flugzeug. Ich hatte keine Zweifel — wir flogen. Und anfänglich umgaben uns manchmal kleine, grüne Flammen. Allmählich rückten sie vor und wurden grell. Schon war der ganze Himmel überzogen von einem grellen phosphoreszierenden Schein.
Da flog ein kleines, dann ein größer werdendes Auge, dann wurden es mehr: wie von einem Menschen, einem Pferd, einer Katze, einem Fisch, einem Hund, einer Ratte, einem Vogel. Das vorausschauende und erblindete Auge. Rätselhaft uind närrisch, streitsüchtig und konzentriert, Kontrabassist und Konterbandit. Das Auge eines gekrönten Hauptes und eines Verarmten. Sie kreisten, sie blinzelten, dehnten ihre Pupillen aus. Ich sah, dass sie ohne Körper und ohne Gesicht dahinflogen, nur zu Paaren aufgesplittert waren, und einzig das strahlende, ungeheuer riesige Auge war allein.
Mir gefiel dieser Flug. Ich wünschte mir sehnlichst, dass er nie enden möge, weil ich Angst vor der Landung hatte. Wie im eigenen Wohnzimmer war es im Wagen warm und gemütlich. Was erwartete mich da vorne? Und seltsam, ich versuchte nicht, mich Celestina zuzuwenden. Der Wagen setzte scharf zur Landung an. Schließlich wusste ich, dass jetzt Mitternacht war. Es brannte ein Feuer. Myriaden von Augen standen rings am Himmel. Es schien, als wäre ich in einem Zylinder, den ein Netz aus Augen bildete.
Ein paar Leute liefen herbei. Sie trugen lange Mäntel. Sie waren kahlgeschoren, redeten aber nicht, jeder war für sich. Sie erschienen mir echt. Im Versuch, mein Bewusstsein wiederzugewinnen, bewegte ich mich und entblößte irgendwie eine Quelle kolossaler Kraft. Aus Verzweiflung schlugen sich die Anwesenden den Schädel ein. Aus ihren Gehirnen stieg heißer Dampf auf, und was später geschash, konnte ich nicht begreifen: Sie schrien auf und verschwanden. Ich stieg aus dem Wagen und war überzeugt, dass ich mir alles eingebildet hatte. Eine Stimme rief mich aber. Vom Feuer kroch grauer Rauch hoch. An dieser Stelle erschien Celestina. Ihr Körper war mit Gold überzogen, und sie macht sich bemerkbar. Ihrer Stimme gelingt es, die Augen plattzumachen. Sie detonieren einfach. Ein sonderbares Feuerwerk. Und ich sah meine Mama.
Mama hatte das alte Mütterchen hinter sich gelassen, das sie war, und war eine rosige Braut geworden. Ihre Haare endeten in einem langen Zopf. Ihr blendend weißes Kleid entfaltete sich im Wind. Sie hielt fünfundzwanzig weiße Rosen in der Hand. Ich dachte entzückt: »Was für ein toller Wahn!« Ich erwartete noch den Teufel. Salamander spielten Domino. Wilde Mustangs galoppierten vorbei … Und ich dachte an den Ruhm, den Reichtum und die Wahrheit, und das mit nicht enden wollender Freude. Meine Gedanken entluden sich in Gelächter. Ein Tohuwabohu. Ich rief aus:
»Wo bleibt die Ordnung? Wann kommt endlich der Ziegenbock?«
Eine Stimme antwortete: »Du bist die Ziege!«
Die Beleidigung machte mir nichts aus. Was soll das Horn, was soll der Ziegenbart, es gibt nur: Mäh, mäh, mäh … Das war, als eine Million Engel, himmlisch reine Engel, sangen »Unser Feiertag!« und ihre scharfen Zähne in mich schlugen und mich in Atome zerrissen, und ich erlebte einen endlosen, mächtigen und unbeschreiblichen Orgasmus. (Unendlich ist gelogen.) Als ich wieder zur Besinnung kam — dachte ich, ich bin tot. Doch ich lag in einem Krankenbett. In den Augen leuchtende Sonnen, stand lächelnd und taufrisch Celestina vor mir.
»Niemals werde ich mich von dir trennen, Celestina. Niemals …«