Der gute Mensch von Sezuan

Der gute Mensch von Sezuan war Schullektüre vor 50 Jahren, und wir haben das alles längst vergessen. Kann man aber nochmals lesen, das Brecht-Stück, und sich selber Gedanken darüber machen. Es wurde am 4. Februar 1943 in Zürich uraufgeführt. Man sagt, es handle sich um eine Parabel, die also eine Wahrheit über die Welt aussagt: wie sie durch die Menschen geworden ist.  

Der Mensch hat viele Gesichter, und das eine, das er herzeigt, wirkt manchmal, als sei er besessen oder ein anderer. Kommunikation verläuft ja nicht einspurig; ich orientiere mich an meinem Gesprächspartner und ändere mein Verhalten je nach Situation, und das ist normal. Kleinere Abweichungen gehören dazu, größere Abweichungen sind pathologisch, und Literatur zeigt das mittels Doppelrollen.

Im 17. Jahrhundert mit seiner freien Moral und seinem betonten Individualismus nahmen in der Literatur Verkleidungen, Vertauschungen und Verwechslungen überhand, als habe man unbewusst auf die Verwandtschaft aller mit allen hinweisen und Adel und Armut nur als etwas Äußerliches sehen wollen, und später, als die Nobilität abgedankt und das Geld sich zum Herrscher aufgeschwungen hatte, zeigte man Verwechslungen zwischen Arm und Reich (in Kleider machen Leute von Gottfried Keller sowie Drei Männer im Schnee von Erich Kästner), und wieder später spielte man auch mit den Geschlechterrollen; das war aber erst nach dem Krieg, in den 1950-er Jahren, etwa in den Kömödien von Billy Wilder. Literatur trachtet danach, die Unterschiede einzuebnen, indem sie sie karikiert.

Bei Bertolt Brecht treten drei Götter auf und suchen einen guten Menschen. Wenn es einen Gerechten in Sodom und Gomorra gibt, werden die Städte nicht zerstört, heißt es in der Bibel. Keiner will die Götter aufnehmen (wie bei der Herbergssuche von Maria und Joseph in Bethlehem). Dann kommt eine junge Frau und lädt sie ein: Shen Te, eine Prostituierte. (Auch bei Jesus sind die Sünderinnen wertvolle Menschen.) Die Götter sind begeistert und hinterlassen ihr eine hohe Geldsumme, von der sie sich einen Tabakladen kauft.

Shen Te bleibt gutherzig. Doch immer mehr Arme treten auf und verlangen etwas, sie saugen sie aus wie Vampire. Bald wird sie den Laden aufgeben müssen, weil sie verschuldet ist. Jedoch ist sie glücklich. Sie hat sich in Yang Sun verliebt, der auch Geld von ihr will, um wieder fliegen zu können. Shen Te:

Yang Sun, mein Geliebter, in der Gesellschaft der Wolken!
Den großen Stürmen trotzend
Fliegend durch die Himmel und bringend
Den Freunden im fernen Land
Die freundliche Post.

Nach dem vierten Bild (von insgesamt zehn) steht Shen Te mit einer Maske und Männerkleidern da. Sie ist im Begriff, sich in ihren Vetter Shui Ta zu verwandeln. Warum?

Die Guten
Können in unserem Lande nicht lang gut bleiben.
Wo die Teller leer sind, raufen sich die Esser.
Ach, die Gebote der Götter
Helfen nicht gegen den Mangel.

Shui Ta tritt an und räumt auf, rettet den Laden und gründet sogar eine Tabakfabrik. Er spicht lange mit Sun, dem Flieger, der durchblicken lässt, dass er sich Shen Tes nur bedient hat, um wieder fliegen zu können. Vielleicht hat Bertolt Brecht da eine Schwäche der Frauen erkannt, denn obgleich sie weiß, dass Sun ein Schurke ist, der sie belügt, schwärmt sie:

Ich will mit dem gehen, den ich liebe.
Ich will nicht ausrechnen, was es kostet.
Ich will nicht nachdenken, ob es gut ist.
Ich will nicht wissen, ob er mich liebt.
Ich will mit ihm gehen, den ich liebe.

Ja, das ist schön. Liebe braucht keine Gegenliebe, sie hat ihr eigenes Recht. (Ich weiß aber nicht, ob ich es ertragen könnte, dass mich mein Geliebter nur ausnutzt. Er soll etwas lernen, der egoistische Sack, und er hat mich nicht verdient.) Shen Te heiratet und bekommt einen Sohn. Noch einmal verwandelt sie sich in Shui Ta, und als dieser des Mordes angeklagt wird — Shen Te ist ja verschwunden —, gesteht er/sie alles:

Ja, ich bin es. Shui Ta und Shen Te. Ich bin beides. 

Die Götter enpfehlen sich. Shen Te fleht, sie brauche den Vetter. Nicht zu oft! raten die Götter. Einmal im Monat höchstens. Dann schweben sie auf einer rosafarbenen Wolke hoch und singen:

Und lasst, da die Sache nun vorbei
Uns fahren schnell hinan!
Gespriesen sei, gepriesen sei
Der gute Mensch von Sezuan!   

Das legendäre Literarische Quartett im Fernsehen beschloss Marcel-Reich-Ranicki (1920-2013) stets mit einem Spruch aus dem Epilog zu Der gute Mensch von Sezuan. Sehen wir hier eine Sendung vom 28. Mai 1992, also vor 30 Jahren, und wir müssen uns bei 1:15,30 einblenden. Der Schauspieler sagt bei Brecht:

Wir stehen selbst enttäuscht  und sehn betroffen
Den Vorhang zu und alle Fragen offen.

 

 

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