Ziemlich schrill

Ich habe den Eurovision Song Contest vor zwei Wochen wenigstens teilweise mitangesehen — das Finale natürlich ganz — und will meine Eindrücke wiedergeben: die Eindrücke eines Außerirdischen sozusagen, der kein Medienkonsument ist. Doch die Existenz dieses Wettbewerbs ist mir seit Jahrzehnten bekannt; als ich jung war, handelte es sich da um ein Treffen von leidlich begabten Schnulzensängern, und die Kurzform ESC hätte ich geschätzt: Escape. Aussteigen, weg von hier, raus hier!

Vor 30 Jahren hatte ich für die große Nachrichtenagentur einmal darüber berichtet: vorm Fernseher in der Zentrale. Unser Korrespondent vor dem Fernsehgerät. Dann ist mir 2010 noch erinnerlich, als ich in acht Tagen mit dem Rad zur Nordsee gefahren war und auf dem Campingplatz nicht umhin konnte, mit anderen die Entscheidung mitzuverfolgen, und damals ging für Deutschland eine Lena Sowieso ins Rennen, um die es einen Hype gab.

Das Jahr 2022. Meine Ex-Partnerin verfolgte das, ich rauchte längere Zeit draußen und schaute dann gegen Ende wieder rein und blieb dabei. Ich würde meinen Korrespondentenbericht nach Alpha Centauri ungefähr so schreiben:

Ein Teil der Weltbevölkerung — eine Milliarde Menschen — sah an einem Samstag Mitte Mai den Wettbewerb »Eurovision Song Contest«. Von Europa weiß man, dass der Kommerz diesen Erdteil langsam auffrisst. Es wurden so viel Fußballwettbewerbe gegründet, dass sich keiner mehr auskennt, und war der ESC vor 30 Jahren die Sache eines Abends, so ist er heute auf drei Abende ausgedehnt worden mit der Folge, dass die Zuschauer viele Songs zwei Mal sehen.

0051_bis25 Länder der Erde dürfen mit je einem Song in die Endausscheidung. Weshalb Australien und Israel dabei sind, verschließt sich dem Konsumenten: Tradition, sagt man da in Europa, wenn man’s nicht erklären kann. Eine riesige Halle in Turin, Italien. Ein Jahr haben sie das Ding vorbereitet. Erstens fällt auf: die Lichtregie. Jede Gruppe (oder jeder Interpret) wird in einer Orgie von farbigem Licht gebadet, überall raucht und explodiert und spritzt und rotiert und flackert es, man muss es fast für eine Attacke auf das Publikum halten. Dieser irrlichternde Wahnsinn ist für den visuell geprägten europäischen Menschen gedacht, der etwas sehen will, und man hat das ins Extrem getrieben. Mehr geht nicht. Im Grunde ist es auch eine Attacke auf die Musik, die untergehen soll im Licht. Man hat das Gefühl: Die sind alle auf Droge.

thumbnailCAPBOC85Die Musikerinnen und Musiker verkörpern das Idealbild des europäischen Menschen: individuell sein. Individuell sein heißt: auffallen. Schrill sein. Sie sind meistenteils schrill wie Karnevalsgestalten, schreiend bunt, versteckt hinter Masken oder halbnackt, sie hüpfen und schwingen ihre Instrumente, und jemand, der vor 50 Jahren den tranigen Contest sah, würde sich heute die Augen reiben. Sehr rockig und rhythmisch ist alles, doch damit ist ESC sich selbst treu geblieben: Er (der Contest, der Wettbewerb) zeigt den Standard, und heute ist alles möglich und alles scheißegal, anything goes, und da alles gut ist, was auffällt und aus dem Rahmen fällt, gibt es eine Menge visuell Auffallendes, was im Hexenkessel des Exotischen dann aber nicht weiter auffällt.   

Die Sängerinnen und Sänger sind blutjung, um die 25, und das ist Absicht, denn junges Publikum will man, es geht auch um die Kohle, um Einschaltquoten, um Popularität, um Anschlußverdienst. Auf der musikalischen Ebene gab es die Dance-Beiträge, dann auch ein paar Songs mit fremden Rhythmen, die tatsächlich heimische Traditionen aufbereiteten (Frankreich, Serbien, Moldawien, Portugal), und viele Solo-Interpreten mit melancholischen (Jammer-)Gesängen (Polen, die Schweiz, die Niederlande, Griechenland). Schade, dass alle Englisch singen. Damit ebnet Europa seine Vielfalt ein, auf die es stolz sein sollte. 

Die Bewertung durch die Jury und die Fernsehzuschauer je zur Hälfte war wie immer spannend. Wie schön war die Freude der Bands anzuschauen, wenn sie wieder einmal 12 Punkte erhielten! Und eine Konstante beim ESC ist, dass Deutschland immer Letzter wird. Die Ukraine wurde prämiert, doch das war natürlich eine Geste gegenüber dem Land, das von seinem Nachbarn überfallen worden war und viele Tote beklagt. In dieser aufgeheizten Atmosphäre konnte man nicht erwarten, dass die Zuschauer nur die Güte von Songs und Interpreten bewerteten. 

Ihr Korrespondent will seine Lieblinge zuletzt nicht verschweigen: Portugal (Saudade, o wie traurig), Serbien (ein perfekter Körper? Und was dann?) und Frankreich (die Bretonen! die keltische Magie!). Es war ein Spektakel, das mit dem Leben aller Tage jedoch nichts zu tun hat.  

 

Illustrationen: oben rechts Roger Waters bei einem Konzert in Zürich, lange her; Mitte links: Whitney Houston.

 

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