Ein guter Mensch
Im Juni hatte ich ja 18 Tage Urlaub, und am ersten Tag las ich die erste Seite von Die Elenden von Victor Hugo, am letzten Tag die letzte Seite (der 534 des ersten Bandes), weil ich diszipliniert (und neugierig) bin. Auf Französisch natürlich, und unbekannte Wörter überliest man einfach. Ich kenne also nur den ersten Teil und warte, dass der Zufall mir Teil II in die Hände spielt. Bin aber auch so zufrieden.
Ein Neubürger zieht in die Gemeine Montfermeil. Er hat einen Einfall, baut eine Fabrik, bringt Menschen in Lohn und Brot, zeichnet sich als Wohltäter und freundlicher Chef aus, so dass der Graf ihn sogar zum Bürgermeister machen will. Erst lehnt der Mann, den alle Père Madeleine (Vater Madeleine) nennen, ab, doch dann muss er einfach zustimmen. Père Madeleine ist also Bürgermeister und der Engel der kleinen Gemeinde.
Für die Gestaltung einer guten Welt liebe ich Victor Hugo. Herzerwärmend und voller Menschenliebe schreibt er. Doch damit lullt er uns 300 Seiten lang ein. Wir hätten es uns denken können: Ein Romancier des Realismus im 19. Jahrhundert kennt die dunklen Seiten des Menschen, und so treibt Madeleine allmählich auf den Untergang zu, ohne es zu wissen (und wir wissen es auch nicht).
Madeleine hat einen strengen Polizisten unter sich, Javert, und als er diesem verbietet, die unschuldige Fantine ins Gefängnis zu sperren, schreibt dieser einen Brief und behauptet, Madeleine sei Jean Valjean! Bald wird der Autor schreiben:
Meine Leserinnen und Leser werden schon begriffen haben, dass Père Madeleine Jean Valjean ist.
Der Bischof hat Valjean zu einem gottesfürchtigen und menschenfreundlichen Leben bestimmt, doch seine Vergangenheit holt ihn ein. Ein anderer Mann wurde als Jean Valjean enttarnt und brütet im Gefängnis vor sich hin, sieht seinem Prozess entgegen. Valjean könnte es dabei bewenden lassen; man braucht ihn in Montfermeil, und der Gefangene wird es schon verdient haben. Aber das Gewissen lässt ihm keine Ruhe. Er hat im übrigen recht: Man darf auch nicht die kleinste Ungerechtigkeit zulassen, will man nicht seinen Kredit vor Gott verspielen.
Ach, warum hat Madeleine nicht Cosette geholt, die acht Jahre alte Tochter der armen Fantine, die in einer Pflegefamilie als Aschenputtel gehalten wird! (Die Parallele zum Werk von Charles Dickens ist unverkennbar, der mit Little Dorrit ein anderes kleines armes Mädchen zeichnete, das zu einem harten Leben verdammt ist.) Die kranke Fantine stirbt, als Javert wie ein Racheengel auftaucht. Père Madeleine entschließt sich: Er reist zum Prozess und erklärt dort: Ich bin Jean Valjean! Lasst den armen Mann frei, ich habe eine Arbeit für ihn.
Jean Valjean wird festgenommen und nach Toulon gebracht, entkommt auf wundersame Weise und wird für tot gehalten, holt die kleine Cosette von seiner bösen Pflegefamilie weg und schafft es sogar, mit der Kleinen, die er innig liebt, Javert und seinen Häschern zu entkommen. Das war eng!
Mehr wollen wir gar nicht wissen. Jean Valjean schleicht sich durch die Gassen des nächtlichen Paris, Cosette in seinen Armen, und mit ihr wird er ein neues Leben anfangen, sein viertes! Damit kann ich gut leben, vielleicht müssen Band II und III nicht sein. Les Misérables sind so oft verfilmt worden, Jean Gabin und Gérard Dépardieu haben Valjean gespielt, und die halbe Welt kennt vermutlich den Fortgang; ich jedoch bin erst einmal völlig zufrieden.