Drastisch, aber irreal

Im Totenbuch der Tibeter gibt es eine drastische Passage über eine schreckliche Höllenerfahrung, die dadurch relativiert wird, dass man hört: Das alles sind deine Projektionen. Wie in Träumen? Verurteile ich mich selbst, aus einem düsteren Unbewussten heraus, und wie kann ich da gegensteuern?

Der Buddhismus lehrt, dass alles flüchtig ist, mit Leiden behaftet und irreal: auch und besonders diese Welt. Ich baue mir mein Schicksal selbst und projiziere schon in diesem Leben wie wild, doch dort wird es erst richtig übel. »Dein Karma macht dich elend, O Sohn edler Familie«, spricht man den Sterbenden im Totenbuch der Tibeter an.

Zu dieser Zeit wirst du voller Furcht und Schrecken sein, du wirst zittern und sagen: »Ich habe nicht gesündigt.« Darauf wird der Herr des Todes sagen »Ich werde in den Spiegel des Karma sehen«, und sobald er in den Spiegel sieht, werden deine Sünden und Tugenden plötzlich klar und deutlich erscheinen; also hat dir auch das Lügen nichts genützt. Dann wird der Herr des Todes dich an einem um deinen Hals geschlungenen Seil fortzerren, dir den Kopf abschneiden, dein Herz herausreißen, deine Eingeweide herausziehen, dein Gehirn schlürfen, dein Blut trinken, dein Fleisch essen und an deinen Knochen nagen. Aber du kannst nicht sterben, und so wirst du dich, welbst wenn dein Körper in Stücke zerschnitten wird, wieder erholen. 

Wieder und wieder zerschnitten zu werden, verursacht furchtbare Schmerzen, darum … lüge nicht und fürchte den Herrn des Todes nicht. Da du ein Gedankewnkörper bist, kannst du nicht sterben, selbst wenn du gehenkt und zerschnitten wirst. In Wirklichkeit bist du die natürliche Form der Leere, du brauchst dich also nicht zu fürchten. Die Herren des Todes sind die natürliche Form der Leere, deine eigenen verblendeten Projektionen, und du bist Leere, ein Gednkenkörper aus unbewussten Neigungen. Leere kann der Leere nichts anhaben, das Eigenschaftslose kann das Eigenschaftslose nicht verletzen. Äußere Herrn des Todes, Götter, böse Geister, der ochsenköpfige Dämon und ähnliche haben keine Wirklichkeit außerhalb deiner verblendeten Projektionen, also erkenne dies. Erkenne in diesem Augenblick alles als den Bardo.

Alle die Bösen gibt es nicht, du hast sie dir selbst erschaffen. Kurt Leland, ein erfahrender Astralreisender, erzählte in Otherworld einmal:

»Jetzt bist du im Anderswo«, sagte er. »Es ist wichtig für dich, an dem Bewusstsein festzuhalten, dass alles, was du wahrnimmst, lediglich eine Übersetzung von Energiemustern ist. Jetzt bist du verantwortlich für alles, was du wahrnimmst.« 

Und Leland erkannte:

Ich lernte, dass jede unausgedrückte Emotion in der nichtphysikalischen Welt vor mir als eine Kreatur auftauchen kann.

Menschen, die mit Träumen arbeiten, können in ihnen auf wilde Tiere zugehen, weil sie wissen, dass sie Ungelebtes verkörpern. Im Jenseits könnte es genauso sein. Davor warnt immer das tibetische Totenbuch: Versteck dich nicht, stell dich deinen unbewussten Regungen, anders kannst du nicht befreit werden. Je mehr von meinem Unbewussten ich beleuchte, desto geringer ist die Gefahr, dass ich von unbekannten Stürmen überwältigt werde.

Am Ende des Totenbuch-Auszugs taucht der Bardo auf, der Zwischenzustand. Chögyam Trungpa hat (in Transcending Madness) immer betont, dass ein Bardo oft im Leben auftauchen kann — eine Zone, in der ich nicht mehr orientiert bin. Ich weiß nicht, ob ich mich verliere oder mich gewinne. Die Hölle ist auch hier.

Der Grundzug der Hölle scheint Aggressivität zu sein, äußerste Aggressivität. … Sie wissen nicht mehr, gegen wen Sie Ihre Aggressionen schüren … Sie kommen aus der von Ihnen selbst geschaffenen Aggressivität nicht mehr heraus. … Am Ende gibt es keinen freien Raum mehr, alles ist massive, lückenlose Aggression. (…)

Je mehr Aggression Sie nach außen richten, um den Feind zu vernichten oder den Geggner niederzuringen, desto mehr Destruktivität fällt als Reaktion auf Sie selber zurück — das ist der Charakter des Höllenbereichs. (…) Dieses Überlegenheitsgefühl erstreckt sich auf alle Bereiche: Sie sind besser als andere, Sie haben mehr Intelligenz, literarische Kompetenz, philosophische Auffassungsgabe, Begriffsvermügen … mehr irgendwas als andere. … In Ihem Überlegenheitswahn haben Sie etwas Expansives und Invasives, und damit erzeugen Sie immer mehr Hölle, weiten den Höllenbereich aus. … Wir schleudern Feuer, und die Hitze strahlt auf uns zurück. … Man ist nicht einmal imstande, mit diesem Spiel aufzuhören. Man kann nicht anders, man spielt es einfach immer und immer wieder.    

Die Wiederholung, die die Hölle ausmacht. Wir müssen aufwachen und innehalten.

 

 

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