Viel Gegenwind
Vor 2 Wochen hatte manipogo doch Velozipedisches und dabei die Besprechung eines Buches angekündigt. François hatte nicht zu viel versprochen: Im Seitenwind von Urs Zimmermann (2001) ist wirklich ziemlich schräg: So schräg, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass es ein Nicht-Fahrrad-Tifoso zu Ende liest. Wer es tut, taucht in die Welt eines Ex-Fahrradprofis ein. Und da — in dessen innerer und äußerer Welt — geht es wild zu!
Es ist ja ein autobiografischer Roman. Als ich das Titelblatt scannte, bemerkte ich plötzlich den Doppelsinn des Titels: Der Seitenwind wird vom Rennfahrer gefürchtet, entsteht jedoch auch, wenn man rasch die Seiten eines Buchs durchblättert. Das kann in einem schwülen Sommer schon zehn Sekunden die heiße Birne (oder Stirne) kühlen. Werfen wir uns also mit Urs Zimmermann in den Seitenwind seines Buches, dessen Inhalt mit hoher Drehzahl geschrieben ist und das Innere des Lesers eher glühen als abkühlen lässt. Was passiert?
Wolf ist Schweizer und ein ehemaliger Fahrradprofi. Vor Beendigung seiner Karriere wurde er Dritter der Tour de France (bei Urs Z. war das 1986). Nun lebt er in einem schönen Haus an der Goldküste Biels mit dem Bieler See vor der Tür, als der Belgier Albert ihm von einer revolutionären technischen Neuerung spricht, die geheim bleiben soll. Wolf soll als Pionier dienen und damit in einem halben Jahr die Tour gewinnen, weil er immer noch bärenstark ist, wenn auch übergewichtig.
Da wird nun technisch gefachsimpelt, dass es seine Art hat; es geht um Muskelstränge und Zugkräfte, denn das geplante Fahrrad heißt Schrägsattelvelo (auch in diesem Sinn ein schräges Buch). Der Sattel ist nach hinten verlegt und mit der Spitze nach oben gebogen; das soll neue Muskeln ins Spiel bringen. Machen wir’s kurz: Nach 200 Seiten hat das neuartige Velo nicht richtig abgehoben, aber Wolf ist etwas weiter auf einem imaginären Weg, den wir nur ahnen können.
Er hat viel erlebt und kann seine Empfindungen schildern, und wir genießen sie nun. Es ist auf einem Ausreißversuch, als er »mit Schwung an der Spitzengruppe vorbeifährt in die offene Weite der ansteigenden Strasse«.
Ich aber erlebte diese sonderbare Schwerelosigkeit, die viel aufregender ist als alles Fliegen. Erst nach einer Kehre erblickte ich unter mir die Gruppe, die sich aufsplitterte. Verzweifelt wurde versucht, meinen Angriff zu neutralisieren. Immer noch flog ich so, als sei ich körperlos. … In mir verdichtete sich alles. … Wie in Zeitlupe ging ich in die weit geöffnete Welt, jede Einzelheit lag klar vor mir.
Er sei, schildert er seinem Freund Eugen, einfach nicht mehr körperlich gewesen — »sondern, vielleicht, ganz Leib. Ich war in einer anderen Zeit.«
War er nur noch Geist oder nur noch Leib? Oder nicht eher ununterscheidbar beides, — aufgehoben jede Trennung in dieser Flow-Erfahrung, die Amerikaner auch in the zone nennen? An der kartesischen Trennung und anderen leidigen Dualismen laborieren wir seit Jahrhunderten herum. Wolf sieht, wie die Helden auf ihrem Rennrad sitzen, anstatt in ihm zu sein, verschmolzen mit ihm. Das Rad ist das Dritte in der Trinität, mit ihm drücken die Helden sich aus, und wer sich am besten ausdrückt, am schnellsten fährt, hat, meint man immer, den Stein der Weisen gefunden. Die ewige Suche nach der Perfektion!
Wolf ist leidenschaftlich: Er wirft sich auf (oder in) das Projekt, und über ihn heißt es:
Es war, als würden Engel für ihn arbeiten.
Doch dann, im Zug nach Genf,
traf sie ihn wie ein Hammer: die Depression. Der Kopf pulsierte in Wellen von Schmerz, und unversehens lasteten Tonnen auf ihm. Berge waren in ihm. … Die Depression hatte ihn überraschender überwältigt, als er sich das je hatte vorstellen können. Sie war als eine Art Tod mitten in ihn hineingesprungen und hatte ihn in … ein verwirrtes Etwas ohne Hoffnung verwandelt …
Ein halbes Jahr dauerte dieser Zustand, in dem sich Wolf wie ein Stein fühlte und Monate wie Jahre wirkten. Man könnte es sich leicht machen und sagen: Zimmi (so Urs‘ Spitzname) ist eben bipolar oder manisch-depressiv. Es spielen aber auch gesellschaftliche Faktoren mit, doch die behandeln wir extra, und gleich morgen kommt das dran.
Sicher, Zimmi/Wolf war/ist ein Eigenbrötler und Tüftler. Er kann endlos philosophieren und technische Probleme behandeln, er versprachlicht alles und diskutiert alles aus und treibt sich damit selber in die Enge. Wenn jede Leere abgeschafft ist, wenn alles gefüllt ist, bleibt kein Spielraum mehr.
Im Roman keimt Hoffnung. Wolf befreit sich allmählich. Er wirft seinen Fahrradcomputer fort und sagt, er glaube dennoch ans System. Er sagt:
Angenommen, das System hat die 15 Prozent Leistungssteigerung, dann ist das mein Freiraum. Die Verwirklichung würde ihn nur zerstören.
Der Gedanke, etwas, das man tun könnte, zu unterlassen, um seinen Freiraum zu wahren (etwa keine Firma leiten wollen), könnte, zum Leitsatz erhoben, viele Menschen zufriedener machen.
jjjj