Tour de France 1997
Zum Ende der Tour de France kommt heute ein Beitrag aus meiner im Mai schon einmal erwähnten Freiburger Kolumne, die Posers Para Page hieß, obwohl es darin auch ums Radfahren und Reisen ging, nicht nur ums Paranormale. Sie lief von Mai 1997 bis August 1998 in der eng begrenzten Community, die das Internet vor 25 Jahren war. Dieses Jahr begann die Tour in Kopenhagen, und den Osten Frankreichs ignorierte sie. Dafür wurden die Fahrer nach Lourdes geschickt.
Der Beitrag erschien am 30. Juli 1997, zum Ende der damaligen Tour. Es ist eine Reportage aus der Perspektive des Zuschauers am Straßenrand, der die Fahrer nur ein paar Sekunden lang erspäht und dafür Stunden der Anfahrt in Kauf nimmt: Das ist die Leidenschaft des Fans. Doch es geht um die ganze Atmosphäre eines Volksfest, das die Frankreich-Tour immer umgab. Den Text musste ich abtippen, doch ich ließ mich durch ein Glas Rotwein motivieren. Hier kommt er!
Seit ich mir im März 1990 mein erstes Rennrad zulegte, eine englische »Raleigh«-Maschine, verfolge ich die Tour de France. Weil die große Schleife (la »grande boucle«) um Frankreichs Kernland herum, das härteste und längste Radrennen der Welt, schier unmenschliche Anforderungen an Körper und Psyche der Athleten stellt, ist sie ein legitimes Thema für eine literarische Exkursion in die Grenzgebiete. Ich darf also. (Unten der Autor als Fahrer bei der Umrundung des Bodensees, 2006.)
Dieses Jahr sind Hunderttausende Deutsche aufgewacht. Auf zur Tour! Es ist nicht alltäglich, dass jemand, sagen wir aus München, die 500 Kilometer nach Colmar zurücklegt und 500 Mark sowie zwei Tage dafür opfert, um tags darauf einen jungen Mann in einem gelben Trikot die Ziellinie überqueren zu sehen, der 800 Kilometer von München entfernt geboren wurde. Der Schweizer Beat Zberg etwa, auch Tour-Teilnehmer, ist näher an München geboren, hat aber erstens das Pech, nicht Nummer eins und zweitens nicht Deutscher zu sein. Nach (Boris) Beckers Abschied und (Steffi) Grafs Niedergang kam uns Jan Ullrich gerade recht, denn von Michael Schumacher haben wir nicht viel. Er versteckt sich gründlich in seinem Rennwagen und ist auch so schnell vorbei.
Aber auch Jan Ullrich ist schnell vorbei. Ich sah ihn eine Sekunde lang: an einer Spitzkehre unterhalb des Grand Ballon (1424 Meter) im Elsass. Am Tag vorher hatte ich mich im Dorf Blodelsheim an der Straße nach Colmar postiert … in der Nähe eines Tisches, der direkt an der Straße stand. Eine alte Frau im Rollstuhl und ihr Ehemann schauten in einen darauf gestellten Fernseher, und ein großer Sonnenschirm gab ihnen Schutz. Anhand der Marschtabelle war leicht zu berechnen, wann die Fahrer kommen würden. »Sie sind eine halbe Stunde schneller als geplant!« lautete eines der Gerüchte. Das Feld fuhr mit 58 Sachen und schien tatsächlich früher eintreffen zu wollen. »Jetzt sind sie in Kembs!« rief ein Mann verzückt aus. Noch zwanzig Minuten.
Zwei kleine Jungs klauben glücklich Bonbons, Mützen, Würste und Flaggen aus den vorbeirollenden Werbeautos auf. Die Elsässer sitzen auf ihren Campingstühlen und warten. »Die erste Gruppe hat drei Minuten fünfundvierzig Sekunden Vorsprung vor dem Hauptfeld!« quäkt es aus einem roten Fahrzeug der Tour. Zehn blaue Motorräder der französischen Gendarmerie rollen gravitätisch vorbei, zu zweien jeweils, eins links, eins rechts. Dann Autos, Jubel, und zehn Rennfahrer zischen an uns vorüber.
Wieder Pause. Vier langsame Motorräder mit blinkenden Lichtern – und das Feld: ruhig, gefasst, unterwegs zum Ziel. Du siehst sie alle von hinten, und diese Momentaufnahme ist wahrlich beeindruckend. Zehn, vielleicht mehr Mannschaftsfahrzeuge mit Fahrrädern aufu den Dächern, ein Wald von Fahrrädern; hinter ihnen, kurz vor der nächsten Biegung und halb verborgen, die Rücken der Fahrer, Lautsprecherdurchsagen, und über dem Dorf schweben drei Helikopter. Einmal, für wenige Sekunden, steht es im Zentrum der Aufmerksamkeit.
Am nächsten Tag war mein Standort die erwähnte Haarnadelkurve auf 1000 Metern Höhe. Die Fahrer sollten von oben – vom 1424 Meter hohen Grand Ballon – kommen, um die Kurve fliegen und weiterjagen zu Tal. Das taten sie auch. Erwartet wurden sie von Hunderten Menschen, die eng diese Kurve belagerten und mit Rädern, Motorrädern und Autos angereist waren; eine dänische Familie mit vier Nationalflaggen war da (für die drei Dänen Meinert, Riis, Skibby und Sörensen), Leute am Campingtisch mit der Kühltruhe daneben und Leute auf Logenplätzen. Ein Herr saß auf seinem Campingstuhl genau am Scheitelpunkt, sah bequem die Straße ein, von der die Fahrer herabkommen sollten, und neben ihm lag ein Berner Sennenhund, die Pfoten allerliebst über den Bordstein gehängt.
Erst kommen hundert Autos, hupend, quäkend, großmäulig: nicht einfach Autos, sondern vierrädrige Kreationen. Riesige Entenschnäbel sind die Vorderzonen der Disneyland-Autos, das Wurstauto sieht aus wie eine eckige Salami und der Gashersteller Antargaz hat unter das Modell einer Gasflasche einfach ein Chassis gehängt. Vierzehn Uhr neununddreißig: Der Wagen der Tour gibt fünfundzwanzig Sekunden Vorsprung einer Gruppe mit Pantani, Virenque und Jalabert bekannt. Die Motorräder mit den blinkenden Lichtern plötzlich – und die Fahrer, die wir von unserer Böschung nur von hinten sehen, sind da, legen sich in die Kurve, stehen kurz auf und treten beschleunigend in die Pedale, die Straße hinunter.
Das da könnte Pantani gewesen sein von Mercatone uno, ein rosa Once-Trikot, ein gelbblauer TVM-Mann … das Gelbe Trikot geht auf die Außenbahn und beschleunigt, den Körper gestreckt wie einen Pfeil, und dieses Bild bleibt für die Heimfahrt, wie eingefroren – als habe man den Videorekorder gestoppt. Ein Fahrer in Grün schießt alleine herunter, verbremst sich, segelt vier <meter vor dem Berner Sennenhund auf die Straße. Er springt hoch, ein Servicemann eilt herbei, reißt das verbogene Hinterrad fort, spannt ein neues ein, Mann auf, anschieben, fort. Das Feld kommt um vierzehn zweiundvierzig, pünktlich wie Oskar, und dann auch bald der blaue Lieferwagen (oder »Besenwagen«) mit der Aufschrift »Fin de Course«.
Die Zuschauer laufen auseinander, und auch das nette ältere Ehepaar aus Lahr wünscht uns einen schönen Tag. Sie haben einen rattengroßen Hund dabei, der ohrenbetäu bend kläffen kann, und die Frau hat sich – offenbar am Frühstückstisch – ein Transparent gemalt, auf dem »Jan« steht. Es baumelt ihr vor der Brust. »Haben Sie das Gelbe Trikot gesehen?« frage ich, noch atemlos. Sie sagt bedauernd: »Nein!« Es war trotzdem ein schöner, wenn nicht denkwürdiger Tag.
Ich bin dann hinter drei Autos und einem Motorrad den Berg mit der schadhaften Straße hinuntergehoppelt und durfte mich fühlen wie ein eskortierter Ausreißer auf der Alpenetappe. Das ist eine köstliche Situation. Der Ausreißer auf der Tour-Etappe ist immer einsam, wird aber von Millionen beobachtet. Die Medien sind in den letzten Jahren den Menschen immer mehr auf den Pelz gerückt, auf die Haut, tiefer geht’s zum Glück nicht. Die letzten fünfzig Kilometer bin ich mit meinem Begleiter, einem Krankengymnasten aus Freiburg, mit einem Dreißiger-Schnitt zurückgefahren. Am nächsten Tag fühlte ich mich zermanscht. Es war drückend schwül gewesen, und fünf Liter hatte ich auf der Fahrt in mich hineingegossen. So, ausgebrannt und zerschlagen, denke ich, fühlen sich auch die Profis nach jeder Etappe, vor ihrer Massage. Und am nächsten Tag müssen sie wieder los. Wieder 200 Kilometer. Ein großartiger Sport.
Jan Ullrich hat es also geschafft. A Star Is Born. Im vergangenen Jahr war er Zweiter, aber die Tour war eingeklemmt zwischen der Fußball-Europameisterschaft und den Olympischen Spielen. Hat eigentlich keinen so recht interessiert. Jetzt mühen sich die Reporter, mit der Stimme von Predigern die Geburt eines neuen Heroen immer und immer wieder heraufzubeschwören. Die neue Lichtgestalt des Sports, ein sympathischer junger Mann, der alles richtig macht. … Das stimmt wohl, geht aber trotzdem auf den Nerv. Fernsehen ist darum am schönsten ohne Ton.
Jan Ullrich scheiterte im Jahr darauf, bei der Doping- und Skandaltour, an Pantani, und dann war immer Lance Armstrong besser, fünf Mal, und am nähesten kam ihm Ulle, als er – von der Telekom suspendiert – für ein italienisches Team unterwegs war. Links im Bild seine Biografie, die ziemlich ins Schlingern geriet. Das Letzte, was ich von ihm hörte war, dass er in seinem früheren Wohnort am Kaiserstuhl, in Merdingen, sich als Lokalpolitiker betätigen wolle.