Defekte

Noch einmal Montale: »Ogni giorno di più mi scopro difettivo: / manca il totale.« In der Übersetzung: »Jeden Tag entdecke ich Defekte an mir: Fehlt die Vollendung.« Manchmal bin ich enttäuscht und merke, wie vieles noch zu lernen ist. Kann man es schaffen? Wohl nur mit der üblichen ständigen Achtsamkeit dr Buddhisten; es scheint mir unmöglich. 

Vielleicht sollte man sich freuen, noch etwas lernen zu können. Es gibt anscheinend Rhythmen im Leben. Ende Mai fühlte ich mich wie ein König, aber mit dem Beginn des Urlaubs verzerrte sich die Lage, und ich hatte sechs Wochen wenig Energie und war etwas aus der Spur. Aber dann, genau nach sechs Wochen, hatte ich das Gefühl, durch zu sein. Ein Neuanfang!

Swedenborg schrieb in Himmel und Hölle, dass sogar die Engel Zustandsveränderungen durchmachen, dass sie nicht immer gleich gut »drauf sind«. Ihm wurden Ursachen genannt:

die erste, daß die Lust des Lebens und des Himmels, die ihnen aus der Liebe und Weisheit kommt, die vom Herrn sind, nach und nach ihren Wert verlieren würde, wenn sie ununterbrochen darin wären; wie dies denen geschieht, die ohne Abwechslung in Lustbarkeiten und Wonnen sind. Eine andere Ursache ist, daß sie ebenso wie die Menschen ein Eigenes haben, und dieses das sich selber lieben ist, und daß alle, die im Himmel sind, von ihrem Eigenen abgehalten werden, und inwieweit sie vom Herrn her davon abgehalten werden, insoweit in der Liebe und Weisheit sind, inwieweit sie aber nicht abgehalten werden, insoweit in der Liebe zu sich sind; und weil jeder sein Eigenes liebt und es [ihn] fortzieht, darum treten bei ihnen Zustandsveränderungen und aufeinanderfolgende Wechsel ein.

Wenn schon die Engel wieder dem Egoismus anheimfallen, den Zustand dauernder inbrünstiger Liebe nicht zu halten vermögen, müssen wir uns nicht schämen. Aber rätselhaft schon, wie eine Krise ihren Weg nimmt und sich innerlich wie äußerlich ausdrückt, bis wir wieder zurückfinden auf den Weg. Swedenborg traf auch deprimierte Engel:

Sind die Engel im letzten Zustand, welcher eintritt, wenn sie in ihrem Eigenen sind, so fangen sie an, niedergeschlagen zu werden; ich sprach mit ihnen, während sie in diesem Zustand waren, und sah ihre Niedergeschlagenheit; allein sie sagten, sie seien der Hoffnung, in Kürze wieder in den vorigen Zustand und so gleichsam wieder in den Himmel zu kommen; denn der Himmel ist für sie, von ihrem Eigenen abgehalten werden.

Der Himmel ist, von sich (von seinem »Eigenen«) wegzukommen und ichlos und weltabgewandt zu operieren. Immer wieder geht es zurück und wieder nach vorn, und so nähern wir uns der Vollendung an, doch erreichen können wir sie in diesem Leben nicht.

Montale kommt auf das »Totale« (die Vollendung) am Ende seines Gedichtes zurück, das er Rebecca nannte. Rebecca war die Großnichte Abrahams und später die Frau Isaaks, der Herr höchstpersönlich verspricht ihr große Nachkommenschaft, sie ist aktiv und schert sich nichts um die übliche Frauenrolle damals. Sie kam dem »Totalen« nah: der Vollendung.

Montale schreibt am Ende etwas kryptisch:

Solo il divino è totale nel sorso e nella briciola.
Solo la morte lo vince se chiedi l’intera porzione.

Nur das Göttliche ist vollendet im Brosamen wie im Schluck Wasser.
Nur der Tod besiegt es, wenn du die ganze Portion verlangst.

Dass der Tod das Göttliche besiegt, halte ich nicht für gelungen. Ja: Alles, was ist, ist göttlich und vollendet, ja; und wir erheben uns darüber, wenn wir sterben, und dringen in alles ein, haben also unseren Weg hier auf Erden vollendet. Aber wie viel Arbeit wartet dort noch auf uns!

 

 

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