Fünf Prozent
Bisweilen denkt man über sein Leben nach und kommt zu dem Schluss: Da war nicht viel. Unbedeutend eigentlich, vernachlässigbar; man hat reagiert, hat sich treiben lassen und am Ende das Gefühl, man hätte das Leben eines anderen gelebt, wie es Jorge Luis Borges ausdrückte; oder man hätte gelebt wie in Trance, am Rande aller Ereignisse. Beruhigend, dass manch ein Dichter das ähnlich sah …
Eugenio Montale (1896-1981) war häufig Gast auf diesen Seiten. Einer seiner Gedichtbände heißt Xenien. Da denken wir an die Xenien Goethes und Schillers, 676 sollen sie verfasst haben, denn Xenien waren Epigramme, also kleine Gedichte, und der römische Dichter Martial machte sie bekannt. Die 7. Xenie Motales geht so (dies und das nächste übersetzt von Michael Marschall von Bieberstein):
»Ich war nie sicher, auf der Welt zu sein.«
»Hübsche Entdeckung«, gabst du mir zurück, »und ich?«
»Ach, du hast an der Welt genagt, wenn auch
in homöopathischen Dosen. Aber ich …«
Und dann, Per Finire (Zum Ende):
Meinen Nachfahren (wenn es welche gibt)
im Bereich der Literatur, und das
ist unwahrscheinlich, empfehle ich,
einen schönen Scheiterhaufen zu errichten
aus allem, was mein Leben betrifft,
aus all meinem Tun und Lassen.
Ich bin kein Leopardi, hinterlasse wenig dem Feuer,
ist es doch schon zuviel, in Prozenten zu leben.
Ich lebte zu fünf Prozent, erhöht nicht
die Dosis. Allzuoft regnet es doch
auf den nassen Boden.
Das hat er am 24. Oktober 1972 geschrieben. lebte dann aber noch fast zehn Jahre. »Vissi al cinque per cento, non aumentate la dose«, so klingt das auf Italienisch. Wenn ich demnächst Mut habe, werfe ich alle meine alten Tagebücher fort, diese peinlichen Heftchen der Jugendjahre.
Andere Beiträge zu Eugenio Montale:
Lindau (2021) — Die Holzbrücke — Lindau (2013)