Städtebewohner
Als Dorfbewohner gehöre ich weltweit zu einer Minderheit. Die Statistiken sind sich nicht einig, aber zirka 70 bis 75 Prozent der Weltbevölkerung leben in Städten. In der Mumbai Metropolitan Region in Indien leben so viele Menschen wie in Bayern, Österreich und der Schweiz zusammen. Jeder Quadratkilometer dort in Indien wird durchschnittlich von 25.000 Menschen bewohnt.
Alexander Mitscherlich schrieb 1965 in seinem Buch Die Unwirtlichkeit unserer Städte:
Die Tendenz zum Zuzug in die großen Metropolen hält auf der ganzen Erde unvermindert an.
Ds gilt auch heute noch. Nehmen wir einmal Lima, die Hauptstadt Perus mit 7 Millionen Einwohnern, die uns Ende des Monats noch einmal beschäftigen wird. In den 1990-er Jahren zogen aus dem Umland jedes Jahr 200.000 Menschen zu, und die Stadt dehnte sich über Gebühr aus. Wohlhabende Bürger verließen Lima, während die Armen stundenlange Busfahrten zur Arbeit im Zenbtrum in Kauf nehmen mussten.
Und die Erwartungshaltung der Städtebewohner skizziert der österreichische Psychologe so:
… es könnte sein, dass die affektive Erlebnissphäre, mit der wir es nun bei Millionen von Menschen zu tun haben, auch im Zustand der Erwachsenheit ebenso undifferenziert, so unartikuliert, so vage wie die eines Kleinkindes bleibt, das an der Brust der Mutter liegend warme Nahrung erfährt, die Mutter selbst als Person aber noch gar nicht erkannt hat. Viele Gratifikationen, die aus unseren technischen Einrichtungen von der Wasserversorgung und Wärmeversorgung bis zur Rentenzahlung herrühren, viele Dienste des städtischen Lebens werden mit der gleichen Achtlosigkeit als abrufbare Funktionen gebraucht, ohne dass überhaupt noch der Gedanke daran auftaucht, welche Voraussetzungen diese Funktionen erst möglich machen.
Wir haben uns größere Gefühle untersagt, wir sind realistisch denkende Techniker. Mitscherlich blickt zurück:
Die emotionale Beziehung zur klassischen Stadt war demgegenüber ohne Zweifel höher organisiert; schon deshalb, weil eine Fülle von Produkten in ihr vor den Augen aller hergestellt wurde, weil ihr Verwaltungszusammenhang nahezu mit den Grenzen der sinnlichen Wahrnehmung übereinstimmte.
Carl Jacob Burckhardt (1891-1974), der Schweizer Historiker, hielt am 9. August 1952 in Nürnberg einen Vortrag betitelt Städtegeist und rief uns einiges ins Gedächtnis:
Die Städte sind der Mittelpunkt des Verkehrs, und gerade dadurch werden sie zu diesen Heerlagern der Kultur. Die Städte sind aber auch die Generatoren des geordneten, gestuften Zusammenlebens, der Arbeitsteilung. Indem sie das ihrem Grundwesen innewohnende Bestreben beibehalten, die gesetzliche Ordnung nach eigenen Erfahrungen zu gewinnen, selbst Ordnung im Hause zu machen, streben sie zur Unabhängigkeit von äußerer Einmischung und dadurch zur Freiheit.
Das sind schwierige Sätze, darum wollen wir es mit noch einem Zitat gut sein lassen. Burckhardt erwähnt als das schönste Zeugnis für den Freiheitsgeist in der Stadt die Statuierung des ersten Straßburger Stadtrechtes um 1130 (und aus meiner Schulzeit ist mir noch in Erinnerung: Stadtluft macht frei, Landluft macht eigen).
»Nach dem Vorbild anderer Städte ist Straßburg mit dem Ehrenrecht begabt, dass jedermann, Fremder wie Einheimischer, innerhalb des Weichbildes zu jeder Zeit und vor jedermann Frieden habe. Hat jemand draußen Missetat begangen und ist aus Furcht seiner Schuld wegen in die Stadt geflüchtet, so soll er sicher in ihr weilen, und niemand darf gewaltsam Hand an ihn legen.«