Hymnus auf die Liebe
Konstantin Raudive (1909-1974), der lettische Tonbandstimmenpionier, war ein produktiver Romancier, dessen Werk sich den gängigen Kategorien entzog. Aus dem Chaosmenschen haben wir einmal zitiert, nun sollen es weitere Auszüge sein, denn Raudive ist als Autor kaum bekannt.
Seine Frau Zenta Maurina (1897-1978), mit der Raudive von 1965 bis zu seinem Tod in Bad Krozingen lebte, schrieb einmal, ihr Mann habe eine männliche und eine weibliche Seele besessen.
Kaum ein anderer Dichter der Gegenwart hat mit einem solchen Röntgenblick das Seelenleben der Frau durchschaut, die Frauenseele wie einen Fächer auseinandergefaltet. (…)
Konstantin Raudive hat ine Galerie luzider weiblicher Gestalten erschaffen: das schöne, keusch verschlossene, übersensible Mädchenwesen Mirandella, das nicht wagt, sich einer Liebe bedingungslos hinzugeben; die Pianistin Theresa, dioe das tiefste Saitenspiel seiner Seele anrührt; did religiöse Antoinette; die das eigene Ich aufgebende lichthafte Magdalena, die trotz ihrer Demut lieber in den Tod geht, als sich mit einer halben Liebe zu begnügen; die sinnenfrohe, Schönheit verstrahlende Marcelina, großzügig im bedenkenlosen Nehmen, Geben und Verzichten; die intellektuelle, hochbegabte Ärztin Irene; die um den Sinn des Lebens ringende Nora und viele, viele andere.
In der Sylvester-Trilogie des Autors sei die Liebe »kontemplative Schau, ein mächtiger Fluss, der in Gott mündet«. Die Trilogie klingt mit einem Hymnus auf die Liebe aus:
Wie soll ich das Wesen der Liebe beschreiben? Sie kennt weder Alter noch Jugend, sie belebt unseren Blick, macht unsere Ohren hellhörig, unser Herz gütig, unsere Taten edel. Sie ist die Sonne der Seele, die alles, was wir anschauen, durchleuchtet. Erst durch die Liebe erwacht das Innerste … du bist weder der Gebende noch der Nehmende, du bist alles in allem, ein Atemzug des Alls … Andacht erfüllt dich, deine Hände falten sich zum Gebet, um die göttliche Schönheit in irdischen Dingen und Menschen dankend zu preisen … Weder Begierde noch Hunger quält dich, weder Freude noch Einsamkeit … Liebe ist ein endloser Strom des Lichts, der in den Ufern der Stille dahinflutet. Liebe ist ein Weihegeschenk Gottes, das im Gewand der Schönheit sich uns offenbart.(…) Liebe ist, wo man keinen Schmerz zufügt. Liebe ist, wo Gewalt überwunden wird. Liebe ist, wo jeder Selbstbetrug stirbt.
Später, als der lettische Romanautor in Bad Krozingen lebte, widmete er sich der anderen Welt und zeichnete in seinem Tagebuch auf:
8.4. Was der Tod eines nahen Menschen bedeutet, habe ich unlängst selbst tief erlebt. Es ist mir eine neue Welt aufgegangen, und ich bin anders geworden: Wir müssen einmaliger, besser und gütiger leben, als wir es tun. Das Leben ist so unheimlich, einsam und vom zeitlichen Standpunkt unverständlich und fast absurd. Es muss also eine andere Dimension geben, die unser Leben als solches verifiziert. Und diese Dimension ist zu suchen und zu finden in einer anderen Wirklichekit, die uns durch den Tod offenbar wird.