Was weißt du von mir?

Manche armen Bücher stehen jahrelang, stumm leidend, im Regal deiner Bibliothek, bis du dich wieder an sie erinnerst. Nach vielen Jahren nahm ich wieder das Libro de las alucinaciones (2000) des spanischen Dichters José Hierro zur Hand. In der Einleitung fand ich eine Erörterung des Ichs des Autors, verfasst von seinem Kollegen Dionisios Cañas. 

1974 veröffentlichte Hierro (1922-2002, im Bild unten) den Gedichtband Cuanto sé de mi , was heißt Was du von mir weißt, wenn ich nicht irre. In diesem Band scheint Hierro, schreibt Cañas (im Bild unten rechts) im schwerblütigen Stil der Literarurwissenschaft,

hierrouns zu zeigen, dass sein Buch das Bild seiner selbst enthält, das der Poet während seiner lyrischen Selbstbefragung entdecken konnte. Anders ausgedrückt: die Poesie als Weg zur Erkenntnis seiner Identität. In der Poesie … hört man also die Stimme der poetischen Person einer symbolischen Ordnung.

 

In ihr fällt die existenzielle Befragung über das Leben des Autors mit jener eines allgemeinen beliebigen Individuums zusammen. (…) Retrato_Dionisio_Cañas_Autor_Juan_Luis_López_PalaciosEine der wichtigsten Themen der postmodernen Poesie ist die Frage nach der Identität des Autors, angefangen bei den übersteigerten Gipfelstürmen des romantischen Ichs … bis hin zu einem Ich, das seine Zeitgenossenschaft in der Epoche, in der es lebt, anerkennt oder seine Erfahrungen auf Personen der Vergangenheit oder aus einer imaginierten Zukunft projiziert. Der italienische Poet Cesare Pavese, der vor dem Zweiten Weltkrieg auf die Modernität verzichtete (seine Werke haben viel mit denen von José Hierro gemeinsam …), fragte sich 1935: »Alle meine Bilder sind also nichts weiter als vielfältige und intelligente Facetten des fundamentalen Abbilds meiner Erde, die ich bin?«

 

Wer Ich schreibt ob im Blog oder im Buch, meint also Alle. Literatur ist nur möglich, weil wir alle eines Wesens sind: Nichts Menschliches ist uns fremd. Ich krieche als Leser ins Ich des Poeten hinein, verwandle es mir an, und so kann ich mit dessen Hilfe Bruchstücke von mir entdecken, die verborgen lagen. Literatur ist die Weitergabe von Erfahrungen und die Äußerung eines überpersönlichen Wesens, so individuell es auch erscheinen mag. Mein Ich bedeutet nichts. Es ist nur eine Stimme von irgendwoher, die uns berührt.

Jetzt wollen wir aber auch ein Gedicht von Hierro lesen. Ich finde ja, dass das Spanische für Gedichte die schönste Sprache ist. Gerade schaute ich noch in meinen Beitrag über Lope de Vega. Si te echares al agua, / bien de mis ojos, llevame en tus brazos, / nademos todos. 

José Hierro oder sein lyrisches Ich will nach Italien reisen, aber seine Frau fehlt ihm, von der wir nicht mehr erfahren, als dass sie nicht mehr da ist.  Salvatore Quasimodo wollte aus dem Meeresrauschen ihre Stimme hören, Montale spürte die Leere auf jeder Treppenstufe (er hatte seine kurzsichtige Frau immer geführt), und auch Ungaretti litt. Hierros Gedicht heißt Reise nach Italien, den Anfang lassen wir spanisch. (Übrigens sah ich mit Freude, dass das umgekehrte Fragezeichen, das im Spanischen am Anfang des Satzes steht, im Zeichensortiment hier vorhanden ist: ¿ ¿ ¿) In dieser Sprache bin ich nicht total heimisch, aber daran liegt’s nicht, dass Cañas schwer verständlich rüberkam. Der schreibt so. Nun Hierro.

Viaje a Italia

Y ahore qué haré, si tú no estás.
En el espejo te desvaneciste.
Qué haré, si ya no estás. Cómo encontrarte. (…)

Reise nach Italien

Und jetzt, was mache ich, da du nicht da bist.
In einem Spiegel bist du verschwunden.
Was mache ich, wenn du nicht mehr da bist. Wie dich treffen.

Ich war in der Reiseagentur.
Sagte: »Zwei Fahrkarten.« »Wohin?«
»Dorthin, wo es sein muss.« (In der Folge verstanden sie mich.)
Nach Hause ging ich singend, mit wiedergeschenktem
Leben. Ich besah mich im Spiegel.
Du warst aber nicht da. Ich begriff.

Jetzt was kann ich tun. Ohne dich, wer kann
wiederholen das Verklungene, das Verlorene: Venedig
mit den rosa Fenstern, Rom mit Hüten aus Quellen.
Florenz und Siena, Neapel und Pisa,
Botticelli, Giotto, Tizian, Zypressen und Paläste,
Kanäle, Michelangelo, Früchte, Möwen, Donatello,
was werden sie sein ohne dich, da du es warst, die ihnen
Leben, Gefühl, Magie gabst.

Ankommen werde ich — manchmal gefällt es mir,
mir vorzustellen: in der Dämmerung —
in einer beliebigen Stadt. Werde den Reiseführer studieren
und … Das ist ein Versuch. Wer kann nach so langer Zeit
sich einer großen Liebe nähern ohne Seele, ohne Liebe,
was auch heißt, nur mit den Augen?

»Eine Fahrkarte«, werde ich sagen. Sie fragen wohin.
»An einen Ort, den ich erfunden habe
und der so richtig noch nicht existiert. Um mich in einem Spiegel
zu betrachten, der mein Leben reflektiert, als ich noch nicht
Ich war und dem ich mich nun nähere, nun, da
ich mein Ebenbild nicht zurückgeben kann.«

Und sie werden verstehen, warum ich das sagte.

 

Schön ist das Bild des Spiegels. Ohne den Spiegel, der sie war, ja, wer bin ich? Wer liebend mit uns ist, gibt uns Leben, erkennt uns und bestätigt uns.  Ohne diesen liebenden Spiegel, gibt es mich da noch? —

 

 

 

 

 

 

 

 

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