Bloß keine Inquisition

Vor ein paar Tagen hielt der Historiker Robert Neisen hier in Sulzburg einen sehr guten Vortrag zum Nationalsozialismus in Südbaden. Vor allem die Geschichte Heitersheims und Lörrach hat er (auftragsgemäß) untersucht. Am Ende meinte er, man solle bei den Gemeinden nicht urteilen wollen, solle sich zurückhalten. Man dürfe ja nicht wie ein Großinquisitor erscheinen (wie manche seiner Kollegen).

cms-image-007539912Ich dachte drüber nach und war plötzlich empört. Wenn man 90 Jahre danach (1933 kamen die Nationalsozialisten an die Macht) immer noch vorsichtig auftreten muss, wann wäre es dann genehm, deutlich zu werden? In 300 Jahren vielleicht? Dann würde man hören: Lass uns doch mit dem alten Mist zufrieden! Aus dem spärlich vertretenen Publikum (20 Lute) kamen ein paar Fragen zu den Ursachen des Triumphs der gewalttätigen Nazis, und dann wurde es politisch-soziologisch und etwas abstrakt.

Doch ich muss gerecht sein: Es geht nicht darum, Bürger anzuklagen, die vielleicht in die Partei eingetreten sind. Stimmt: Wir wissen nicht, wie wir reagiert hätten. Wehren muss man sich nur, finde ich, gegeb das Totschweigen dieser bitteren Phase der deutschen Geschichte.

Schon in den 1950-er Jahren wollte man in Deutschland nach vorne schauen und nicht zurück. Man baute die zerstörten Städte wieder auf, es ging bergauf, das Wirtschaftswunder deutete sich an, und erst ab 1975 konnten die ersten Bücher über die Konzentrations- und Vernichtungslager erscheinen. Die Deutschen wollten von der gerade vergangenen Vergangenheit nichts wissen und bauten Autos und Häuser, schauten sich die Fernsehshows an, fuhren nach Mallorca und Jesolo, ließen ihre Industrie marschieren. Die 12 Jahre waren wohl eine vorübergehende Geistesverwirrung, ein Betriebsunfall gewissermaßen.

16726071_303-300x169Ich möchte dann immer dazwischenrufen: Vergesst ihr, dass deutsche Menschen mit ausgesuchter und grenzenloser Brutalität Millionen Menschen ermordet haben? »Ganz normale Männer« erschossen im Osten eine Million Menschen im Fließbandverfahren, töteten unter Gas systematisch weitere 6 Millionen, ließen russische Kriegsgefangene krepieren und richteten Massaker in Dörfern in Frankreich und Italien an. Diese schonungslose Killermentalität war anscheinend in ihnen drin. Die Täter müssen ihre Taten irgendwie vor ihrem Gewissen rechtfertigt haben, und die wenigsten kamen vor Gericht — und dann auch noch glimpflich davon.

Für dies alles, was man nie gutmachen kann, wurde mit Geld bezahlt. Reden wurden gehalten mit dem Unterton des Bedauerns, und Willy Brandt fiel 1971 in Warschau auf die Knie. Und bald schon meldeten sich welche, die davon nichts mehr hören wollten, und jetzt hat ohnehin niemand mehr etwas damit zu tun, es war ja die Großvätergeneration, und die meisten Täter und Opfer sind ohnedies gestorben. Aufgearbeitet ist alles worden (in Büchern und Filmen), aber Trauer und Entsetzen über das Vorgefallene waren selten.

Robert Neisen erklärte, nach dem Krieg sei es gegen den Bolschewismus gegangen, das war der neue Feind, und schleunigst vergaß man alles Übrige. Vor dem Krieg, 1933, erholte sich die Wirtschaft gerade wieder, man hätte die braunen Schurken mit ihren schwarzen Stiefeln nicht gebraucht. (Übrigens gab es in der Partei kaum Frauen: höchstens 10 Prozent. Die Brutalität kam von ungebildeten ungehobelten Männern.) Dann ernannte Reichspräsident Hindenburg Hitler zum Reichskanzler, um Papen in den Schatten zu stellen und machte den Anstreicher und die Nazis damit salonfähig.

Die konservative Adels- und Regierungsschicht dachte, dass man die NSDAP bald wieder aufs Abstellgleis schieben könnte, und das war eine der größten Fehlkalkulationen des 20. Jahrhunderts, weil die Nazis sich nicht um Recht und Gesetz scherten und alles zertraten und zertrümmerten, was ihnen nicht passte.

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