Der Schritt ins Unbekannte
Wenn ein Patient zum Sterben in sein Hospiz kommt, sieht Paul Smith die Angst in dessen Augen. Wovor er Angst habe? »Irgendwie … vor allem«, ist meist die Antwort, und Smith fragt dann gewöhnlich: »Haben Sie schon mal eine Ferienreise ins Blaue gemacht? Da ging sicher alles gut.« Und damit ist schon eine Erleichterung spürbar, ein Kontakt ist hergestellt, der Rest ergibt sich …
Paul Smith, der seit 18 Jahren in einem Hospiz in der Nähe von San Francisco arbeitet, war Ende September Gast in dem Fernsehkanal »Let’s Talk Near Death«. Das Interview mit ihm verdanke ich Victor Zammits Newsletter, der jeden Freitag per Mail kommt und schon seit über 22 Jahren erscheint. Der Beitrag passt gut zur Seelen-Hebamme, die uns im August entgegentrat.
Oft werden wir zu unserer Aufgabe hingeführt. Paul Smith, gerade frisch umgezogen, traf auf dem Parkplatz einen Jungen, der in einem Hospiz tätig war, ging mit und sagt heute: »Es war von unschätzbarem Wert, es hat mein Leben verändert.«
Wer ins Hospiz kommt, wird unweigerlich sterben. Die Mitarbeiter gehen drei Mal in der Woche zu einem Patienten, und wenn sich die Sterbephase nähert — die letzte Stunde, das »aktive Sterben« —, schauen sie drei Mal am Tag herein und lassen geschehen, was geschehen soll. Wann genau es passiert, kann man ahnen, aber nicht wissen. Paul Smith machte die letzten Atemzüge vor: dieses kräftige Einatmen, dem eine Pause folgt, die immer länger wird und auch eine Minute dauern kann. Er sagte:
Das Allerletzte, was wir tun, ist ausatmen. Das ist geradezu symbolisch. Denn die erste Tat im Leben, nach der Geburt, ist ein tiefes Einatmen. Wir leben!
Was sich beim Sterben vollzieht, nennt Smith »magisch, mystisch und schön«. Hunderte Male hat er es miterlebt und dabei beobachtet:
Da ist eine Gegenwart, eine vorüberziehende Energie. Die Energie im Raum wird kristallklar. Das ist erstaunlich. Manchmal nimmt die Energie zu — als ob eine Glühbirne plötzlich stärker strahlte. Es verblüfft mich jedes Mal mehr; es nimmt mich mit, ich bin empfänglich dafür.
Eine Frau, Kathy, wurde kurz vor ihrer Pensionierung eingeliefert und hatte gerade ihr Mittagessen vor sich, als der Hospizmitarbeiter etwas spürte. Er fragte sie, ob alles okay sei mit ihr. Sie erwiderte, sie fühle sich seltsam. Und bald danach sank sie in die letzte Phase und nahm nichts mehr wahr. Es sei eine sehr starke Schwingung im Zimmer gewesen, die eine Stunde angehalten habe. Nach Kathys Tod wollte Smith heimfahren, fühlte sich aber derart ausgelaugt, dasss er anhalten musste. Er sei dann eine Stunde »wie irgendwo anders« gewesen.
Yvonne lag im Sterben, doch Smith musste weg. Er flüsterte ihr zu, es tue ihm leid, aber er müsse jetzt gehen. Da schlug die Frau völlig überraschend die Augen auf und deutete mit der Hand in eine Ecke. Paul Smith sagte, da sei jemand Unsichtbares gewesen; er habe es fühlen können. Auch bei einer jungen asiatischen Frau nahm er diese starke Energie wahr.
Es war bezwingend. Ich musste meine Augen schließen. Ich lerne ja immer noch hinzu. Nach einer Stunde spürte ich die Energie zunehmen. Ich fühlte es: Diese unsichtbare Präsenz ist hier. Ich hätte fast »Hallo« oder »Willkommen« gesagt. Dann kam ein Schwung Energie mein Rückenmark hoch … Ich wusste: Sie war gegangen. — Danach ist dieser Körper, der daliegt, nur mehr ein leeres Vehikel.