Ich treffe dich dort
Beim zweiten Lesen des Zen-/Motorradbuches von Pirsig stolperte ich über eine Stelle oder: blieb an ihr hängen. Es sind ein paar unschuldige Zeilen, die einen Traum verraten, und weiter geht der Autor nicht darauf ein. Doch es gab ein schlimmes Ereignis (später, in seinem Leben), das man auf den Traum beziehen könnte.
Der Erzähler, der früher der Dozent Phaedrus war und einige Zeit in der Psychiatrie verbrachte, ist in dem Buch bekanntlich mit seinem elfjährigen Sohn Chris auf dem Motorrad unterwegs. Unten sehen wir ein Bild aus dem Jahr 1968 mit Vater und Sohn Pirsig.
Dann unternehmen sie eine anstrengende Bergtour, bei der Chris keine Lust nehr hat, aber der Papa trägt sein Gepäck, und die Krise legt sich. Eines Morgens geht der Erzähler aus dem Zelt, kehrt zurück und begrüßt Chris mit einem fröhlichen »Guten Morgen«. Chris kommt am Morgen erst langsam in die Gänge. Ob er gut geschlafen habe? — »Nein.« — »Und, was war los?« fragt er auf der ominnösen Seite 222 der englischen Ausgabe.
»Du hast mich wachgehalten.«
»Ich?«
»Du hast geredet.«
»Im Schlaf, meinst du das?«
»Nein, über den Berg.«
Irgendetwas ist hier seltsam. »Ich weiß nichts über einen Berg, Chris.«
»Na ja, du hast die ganze Nacht darüber geredet. Du hast gesagt, wir würden auf dem Gipfel des Berges alles sehen. Du hast gesagt, du würdest mich dort treffen.«
Ich denke, er hat geträumt. »Wie könnte ich dich dort treffen, da ich ja schon bei dir bin?«
»Weiß ich nicht. Du hast es gesagt.« Chris wirkt aufgeregt. »Es klang, als ob du betrunken wärst oder sowas.«
Vermutlich ist Chris noch im Halbschlaf, denkt sich der Erzähler. Lassen wir ihn ganz wach werden. Dann holt er Wasser. Er ist Chris am Tag zuvor vorangegangen, später erst gingen sie wieder zusammen. Der Traum könnte also die Sorge des Vaters widergespiegelt haben, vor seinem Sohn auf dem Gipfel zu sein, ihn wiederfinden zu müssen. Seine seltsamen Sätze beunruhigen den Vater sehr. Chris erklärt, derVater habe geklungen wie »damals«, vor seinem psychischen Zusammenbruch.
Das Buch ist sehr autobiografisch, vermutlich hat sich die obige Szene auch so abgespielt, und der Autor gab sie einfach wieder. Das Buch erschien endlich 1974, und da war Pirsigs Sohn Chris (im Buch heißt er genauso) schon 18 Jahre alt. Fünf Jahre später, genau am 17. November 1979 (genau vor 43 Jahren, da ich das gerade schreibe), wurde Chris Pirsig in San Francisco erstochen. In jener Nacht griff ihn in der Haight Street ein Mann mit einem Messer an, der ihn vielleicht ausrauben wollte. Die Straße liegt zwei Häuserblocks entfernt von dem Zen-Zentrum, wo Chris lebte.
Im Buch brechen Vater und Sohn ihre Tour ab. Pirsig schreibt:
Ich habe mich in jenen Tagen sehr leicht erschrocken, und ich schäme mich nicht, das zuzugeben. Er erschrak nie über irgendetwas. Das ist der Unterschied zwischen uns. Deshalb bin ich am Leben und er nicht. Wenn er da oben ist, als psychische Wesenheit, als Geist, als Doppelgänger, der Gott weiß wie dort oben wartet … nun, er wird eine lange Zeit warten müssen. Eine sehr lange Zeit.
Wiederum eigenartige, aber prophetische Sätze. Die lange Zeit waren 38 Jahre. So lange musste Chris warten, bis sein Vater nachkam. Robert M. Pirsig starb mit 88 Jahren am 24. April 2017, doch dann (und dort) bedeuten die Jahre nichts mehr, eine lange Zeit ist auch eine kurze Zeit, das Wiedersehen ist vorprogrammiert.