Anziehungskraft
Im Alltag werden manchmal unterirdische und schwer ergründliche Verbindungen spürbar. Ich will diesen abtrakten Satz mit Beispielen aus meinem Leben anschaulicher machen: Es geht um die Anziehungskraft von Namen (auf andere Namen) und von Personen (auf andere Personen). Das ist offenbar ein Gesetz. Man muss nur aufmerksam sein, dann stellt man es im eigenen Leben fest.
Namen mit ähnlichem Klang kommen oft zusammen, sei es, dass man an einem Tag zwei Leute trifft, die ähnlich heißen; sei es, dass ein Schlüsselwort nochmals prägnant auftritt. Vermutlich ist es der Klang, der wirkt. Ähnliche Frequenzen ziehen sich an. Darum haben Poetinnen und Poeten bis ins 16. Jahrhundert hinein sich vornehmlich mit dem Reim ausgedrückt.
Nur zwei Beispiele aus den letzten Monaten (von vielen aus vielen Jahren):
Der Enkel einer Bewohnerin heißt Amadeus, ich sprach mit ihm, und irgendwie trug ich den Namen in mir. Am Abend surfte ich im Internet herum, fand eine itaienische Seifenoper, die ich kannte (die erste im italienischen Fernsehen, 1993, Edera hieß sie), und der Song dazu war sehr schön, kam von Amadeo Minghi.
Vielleicht nicht so überzeugend. — Mitte November, das war kurios: Die Köchin, die das Abendessen zubereitete, bemerkte, dass einige Bewohner einen ähnlichen Namen hätten, was ihr etwas Schwierigkeiten bereite. Stimmt, das war mir auch aufgefallen. Dann ging ich hoch und blätterte angelegentlich und ohne nachzudenken in einem dicken Buch über die Nobelpreisträger der Literatur herum. Ich kenne das Buch seit 40 Jahren. Und wie durch ein Wunder hielt ich hier an und dort und bemerkte plötzlich, dass zwei Preisträger den selben Nachnamen hatten: Frédéric Mistral (1904) und Gabriela Mistral (1945). Das war mir noch nie aufgefallen. Irgendwie hatte ich das Konzept »mitgenommen«, und jemand (vielleicht der Bibliotheken-Engel) zeigte mir dann: Schau, auch dort!
Nun zu der Anziehungskraft von Menschen aufeinander. Besonders stark ist sie bei Blutsverwandten, aber auch zwei Liebende fühlen sich voneinander angezogen und finden immer wieder zueinander.
Meine Schwester war im November drei Wochen in einer Rehabilitationsklinik in Bad Krozingen. An einem Freitag Nachmittag (vor 9 Tagen also) fuhr ich hin, und wir tranken um halb vier zusammen Kaffee und gingen spazieren. Am Mittwoch darauf hatte ich wieder frei und schlug ihr am Telefon ein Treffen vor, sie aber meinte: Ach, ich bin ja bald wieder zu Hause, dann kommst du zu uns.
Der Tag bot schönes Wetter. Ich fuhr also mit dem Rad los und hatte drei Vorhaben: in meiner Bucht nach dem Müll schauen; in Schlatt bei Bad Krozingen ein paar Bücher in ein Regal stellen; im Baumarkt in Müllheim Reinigungsmittel kaufen. Auf der Fahrt überlegte ich, was ich zuerst tun würde. Erst Schlatt. Da war wenig Platz im Regal. Also dachte ich mir: Fahr weiter nach Bad Krozingen, da ist ein größeres Regal, und da hat’s doch auch einen Baumarkt! Auf die Bucht verzichtest du mal.
Auf dem Weg dorthin musste ich Wasser lassen und zweigte also ab, fuhr zum Schlatter Berg (eher ein Hügel). Danach verpasste ich eine Abzweigung, musste also um den Hügel herum — und plötzlich befand ich mich 100 Meter vor der Theresien-Klinik, in der meine Schwester sich befand. Ich nahm eine Abzweigung, kam unter der Bahn durch, ein älteres Ehepaar ging vorbei, und einen Sprachfetzen fing ich auf: »In der Theresien-Klinik …« Weiter in die Stadt zum Baumarkt, Sachen besorgt, zurückgefahren … und im Zentrum hielt ich vor einem Supermarkt an, dem Cap, in dem Behinderte arbeiten. Fährst du weiter oder gehst du rein? fragte ich mich. Ich kaufte was. Hinterher kaute ich draußen ein paar Kekse, als mich von hinten jemand ansprach: meine Schwester Brigitte!
Das musste offenbar so sein, Ich hatte bedauert, dass wir uns nicht verabredet hatten — und dann saßen wir in einem Café in Bad Krozingen um halb vier wie 5 Tage zuvor, als hätten wir uns verabredet! Auch sie hatte eine Toilette gesucht, sonst wäre sie nie da vorbeigekommen. Doch der Gedanke, warum und weshalb und wie es zu dem zufälligen Treffen kam, bringt nicht weiter.
Da gab es eine innere Anziehung, und es geschah, aber es konnte nur geschehen, weil beide Parteien völlig ahnungslos und absichtslos waren. Ich folgte einfach meiner Intuition oder dem, was ich mir dachte, und sie führte mich genau dorthin, wo ich sein musste. Und auch sie dachte keine Sekunde an mich. Man muss sich führen lassen ohne einen einzigen Gedanken. Leer muss man sein, ohne das bewusst zu wissen. Nur wenn dein Ich nicht anwesend ist, kann dich jemand führen.
Ein bayerischer Bekannter (Constantin, der auf dem Mont Ventoux war), drückte es nett aus:
Du kannst an deinem ursprünglichen Plan festhalten, dann passiert das Treffen nicht. Das Universum sagt dann: Ich hatte mir eigentlich etwas Anderes für dich ausgedacht, aber wenn du partout nicht willst, dann halt nicht.