Aussichten
Am letzten Tag des Jahres brauchen wir einen Ausblick. Ich habe einen Tagebucheintrag von Marie Luise Kaschnitz ausgewählt, den letzten ihres Buches Tage, Tage, Jahre, erstmals erschienen 1968 in Frankfurt. Sie war 1901 in Karlsruhe geboren, lebte lang in Bollschweil südlich von Freiburg (da ist ihr Grab) und starb am 10. Oktober 1974 in Rom. Ihre Zukunft sieht nicht rosig aus — aber dennoch ist sie gespannt!
ROM 10 … 31. Dezember
Weil in dieser wie in jeder römischen Silvesternacht zwischen zwölf und ein Uhr Glas und Porzellan, manchmal auch ausgediente Möbel auf die Straße geworfen werden, will keiner sein Auto benützen. Die Stadt ist voller Fußgänger, die sich dann auch gelegentlich noch ducken, in Hauseingänge flüchten müssen. Ich bin eder den Fußmärschen noch dem Versteckspiel gewachsen, bin darum allein zuhause geblieben; sehe vom Fenster aus das schönste Feuerwerk, Raketen, die von den Dachterrassen aufsteigen, zischen, knattern, sich hoch oben entfalten und als Blumenregen, Sternregen niedersinken, jetzt rechts, jetzt links, jetzt weit hinten am Horizont. Das vielfache Glockengeläut, das ich aus früheren Jahren in Erinnerung hatte, bleibt aus, und ich mache das Licht wieder an.
Auf dem Frattino, dem alten Mönchstisch, liegen die drei prall gefüllten Ringhefte, das Tagebuch des eben vergangenen wie des letzten Jahres, in dem ich jetzt blättere, das ich abschließen will. Welche Ängste, welche Beunruhigungen und Hirngespinste, meine Frankfurter Wohnung, meine Stadtgegend betreffend, ein Festhaltenwollen zuerst, dann Aufbruchstimmung, nirgends mehr und überall zuhause sein. Dann das Unpersönliche, auch schwarzseherisch, auch traurig, einzelne Schicksale und die allgemeine Bedrohung, Grausamkeit und Unfrieden in aller Welt. Das eigene Altwerden, Lahmwerden als Ursache solcher Verzerrung, über die ich heute, in der Silvesternacht, den Kopf schüttle, auf die ich auch nicht mehr zurückkommen will.
Ich habe heute den Brief geschrieben, mich zu einer Operation angemeldet, bald verlasse ich die schöne Dachwohnung, weiß nicht, ob ich nach Rom, ob ich nach Frankfurt zurückkehren werde, bin aber nicht im geringsten ängstlich, sondern erwartungsvoll, fast freudig gestimmt. Eim Abenteuer, das Abenteuer des Alters, vor dem die eingebildeten Ängste wie im Rausch vergehen. Das Niemandsland der Narkose zieht mich an, auch die Morphiumträume der ersten Tage nach dem Eingriff, zu dem ich fahren werde wie zu einem Maskenball, mit allem doch auch für mich vorhandenen leichten bunten Flitter geschmückt. Meine Radikalität kommt mir zu Hilfe, lieber ein Ende mit Schrecken, und schon sehe ich mich leichtfüßig die alten Wege gehen, entlang die Mainufer, treppauf den Palatin, waldhindurch zum Hohen Bannstein, der zu meiner oberrheinischen Heimat gehört.