Die letzten Takte
Als ich die vorletzte Seite von Schweizer Berge las, fühlte ich mich ungeahnt bezaubert. Da war er wieder, der melancholische Tonfall am Ende eines Romans, der Zauber der letzten Takte. Unser Jahr 2022 endet ja auch, es läuft aus, und es ist immer wie ein Ausatmen, bevor man von neuem Atem schöpft. Im Ende verbirgt sich ein neuer Anfang.
Das zarte, wonnige Gefühl, das mich bei der vorletzten Seite empfand, überraschte mich selber. Lednikow hat von Almesow, dem Mann der verstorbenen Anna, viele Erklärungen bekommen und ist zufrieden. Almesow war aufrichtig und engagiert. »Schöne Grüße an Shena« trägt er Lednikow noch auf, der in sein Auto steigt und denkt, was Almesow nun wohl unternehmen werde. Er selber wird vermutlich ein Buch schreiben, da hätte die Rasumowskaja von ihm so gewollt. Das einzige, was er für sie tun könne …
Viele Abenteuer liegen hinter ihm, und Neues deutet sich zaghaft an. — Bei mir wirft Rudi am Ende von Mörderisches Rom eine Pistole ins Meer und fährt mit dem Rad durch den Wald zurück, eine Prostituierte zeigt ihm was Schönes, und er fährt neuen großen Taten entgegen. In Tod am Tiber hört er das Konzert einer polnischen Jazzband, bevor er heimgeht und sich dann aus Mitleid den Bettelmönchen anschließt, die unten auf der Straße sich schreiend kasteien.
Wenn es ein Film wäre, könnte der Abspann mit den vielen Namen schon vorher einsetzen, und da fällt mir Dr. House ein, bei dem das Ende einer Folge auch immer etwas melancholisch daherkam: mit Bildern aus Wohnungen, in denen die handelnden Personen den Abend beschlossen, und sparsame Klänge dazu. (Bild oben links: Der Auitor verließ im September 2018 mit dem Rad Montemassi, nachdem er sich von Bianca verabschiedet hatte. Über ihren Tod Ende November hatte ich kurz geschrieben, doch durch eine Störung im Computer verlor ich die Beiträge von 4 Tagen, und darin war’s wohl erwähnt.)
In jeden Triumph, in jeden Sieg mischen sich etwas bittere Gedanken, denn das Fest ist vorbei. Es gibt kein großes Ziel mehr, denn es ist ja erreicht. Der schrankenlose Jubel ist von kurzer Dauer. Auch die argentinischen Fußballer sind wieder zu Hause angekommen. Wir sind eben immer in Bewegung. Melancholie ist auch eine Art Glück, ein Einverstandensein, eine Meditation.
Vor Weihnachten hatte ich mich erkältet und hustete lange. Doch jeden Tag wird es besser, du weißt es, und irgendwann sagst du dir: Ich bin wieder gesund! Es geht wieder los! Anfang Februar bin ich ein freier Mann, da in Rente. Ein neuer Abschnitt mit Reisen und viel Zeit fürs Studium beginnt. Wir verabschieden also langsam das Jahr, ohne zuviel zurückzuschauen und ohne uns oder das Geschehene zu ernst zu nehmen. Ich nehme meine Melancholie so hin und amüsiere mich darüber.
Bei Ror Wolf (1932-2020), in seinen Nachrichten aus der bewohnten Welt, findet sich eine nette Vignette (so ein kleiner Einfall), die hierherpasst:
Als ich in diese Geschichte hineinsprang, aus dem Hotel heraus mitten hineinsprang in diese Geschichte, nahm niemand davon Notiz; und als ich einige Seiten später am Rande anderer dunkler Geschichten auftauchte, nahm man auch das nicht zur Kenntnis. Mein Auftauchen überraschte keinen, auch mein Verschwinden nicht. Deshalb trank ich schnell meinen Rotwein aus; ich befand mich nun auf der anderen Seite der Welt und versuchte, so glücklich wie möglich zu sein.