Schweizer Berge

Vier Monate habe ich gebraucht für die Lektüre eines russischen Kriminalromans, aber jetzt bin ich durch. 250 Seiten musste ich mit dem Wörterbuch durcharbeiten, fast jeden Vormittag eine Stunde. Ich habe alles verstanden und einen Einblick in die russische Sprache gewonnen. Der Roman ist von 2020, ganz neu also, und er heißt Schweizer Berge, geschrieben von Aleksandr Swjagintzew.

DSCN4630Lednikow, der russische Polizist, erfährt, dass seine alte Freundin Anna Rasumowskaja, die er liebte, bei einem Verkehrsunfall in Bern gestorben ist. Er glaubt, dass da mehr dahintersteckt, fliegt nach Bern (Bild rechts: Zürich. Könnte aber auch Bern sein) und lernt Ewgenija (Shena) kennen. Die schöne junge Frau wurde von Banditen bedroht, und Anna hatte ihr helfen wollen. Lednikow kann auf die Hilfe seines Freundes Nemez zählen und fängt eine Recherche an.

Shenas Vater will auch helfen. Der ehemalige russische Atomminister fliegt also los — und wird auf dem Flughafen Zürich verhaftet. Die Russen verlangen seine Auslieferung, weil er Geheimnisträger sei, und die Amerikaner wollen ihn sogar vor Gericht stellen. Alles verwirrt und verknotet sich. Shena hat sich zudem in Lednikow verliebt, was dieser nicht wahrhaben will, doch am Ende gibt es keinen Ausweg, er bewegt sich auf sie zu, er will sie erobern. (Anscheinend gibt es schon sieben Romane mit dem Helden Lednikow.)

Ein russischer Roman. Es wird unendlich viel erläutert und spekuliert, und der ungeheure Reichtum der russischen Sprache an Verben macht das Unterfangen, den Roman nur lesen zu wollen, schwierig. Schön aber ist es, zu sehen, dass die Literaturgeschichte in Russland lebt. Lednikow zitiert nicht nur einmal Tolstoi, und gegen Ende sagt Nemez zu Shena:

Nun, Ewgenija Wsewolodowna, die Klassiker muss man gelesen haben!

Er bringt aus dem Gedächtnis zwei Sätze, die auf die Situation passen, und sie stammen aus der Erzählung Leichter Atem von Iwan Alexejewitsch Bunin, der 1933 als erster Russe den Literatur-Nobelpreis erhielt. — Ach, und die Szene in dem Buch mit der Liebeserklärung Ruslan Suchotzkis an Shena, das ist reiner Dostojewski. Suchotzki geht in ihr Haus, doch Lednikow und Nemez folgen ihm und kriegen alles mit. (Das begleitende Bild zeigt Konstantin Sergejewitsch Stanislawski mit einer Schauspielerin.) Ich versuche es mal zu übersetzen:

stanislawskiDann sank Suchotzki vor Shena in die Knie, ergriff ihre Hände und sprach zu ihr — außer Atem, wie im Fieberwahn, in abgerissenen Sätzen: »Meine Liebe, ist es möglich, dass Ihr nicht seht, dass ich Sie liebe? Ich liebe Sie seit langem, leidenschaftlich und hoffnungslos! Schon damals, als Ihr ein feingliedriges, noch nicht ausgereiftes Mädchen wart! Und zu niemandem konnte ich davon sprechen! Niemandem konnte ich es eingestehen. Nun Ihr, Ihr wart immer mein Lebensinhalt, meine Leidenschaft, mein Heiligtum! .. Oh, wie ich gelitten habe! Ihr könnt euch meine Leiden und Demütigungen nicht vorstellen!«
Suchotzki barg seinen Kopf in ihren Knien und versuchte dann, ihre Hände zu küssen. Sie betrachtete ihn mit Bestürzung und Furcht.

Wie reagiert man auf solch einen Gefühlsausbruch? Er macht noch weiter, bis endlich Lednikow eintritt und das Idyll zerstört. Suchotzki ist tief in die Affäre verstrickt und wusste von Mordplänen, die Rasumowskaja betrafen. Er gibt dann zu, er habe in jeder Stadt eine Frau gehabt, die er über alles geliebt habe. Seine Liebeserklärung an Shena wirkt aggressiv und selbstquälerisch, ungestüm und erstickend zugleich. So kommen russische Romanhelden oft ‚rüber. Ist das die russische Seele?

Leider hat Putin seinem Land viel Schaden zugefügt und noch mehr der Ukraine. Vier Jahrzehnte hatten sich die Russen in Osteuropa verhasst gemacht — durch ihre senilen, plumpen Machthaber. Als ob das nicht gereicht hätte.

 

 

 

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