Arme Kinder im Paradies
In den ersten Jahrhunderten nach Christi Geburt feierte man Weihnachten gern am 6. Januar. Darauf geht der italienische Brauch zurück, den Kindern in der Nacht Gaben in den Kamin zu legen: Das war dann die gute Fee, die befana. Zwei Weihnachtsgeschichten, die miteinander verwandt sind, interessieren mich heute.
Die erste wurde von Fjodor M. Dostojewski geschrieben und heißt Der Knabe bei Christus. So geht es los:
Ich träume von einem Knaben, einem noch sehr kleinen Knaben, sechs Jahre alt oder noch jünger. Dieser Knabe erwachte an einem Morgen im feuchten und kalten Keller. Er war mit einem Kittel bekleidet und zitterte. … Aber er hätte gerne etwas gegessen.
Da ist ein Betrunkener, eine sterbende Greisin, und in der Ecke seine Mutter. Er befühlte ihr Gesicht und wunderte sich, dass es so kalt war wie die Wand. Dann lief er hinaus in die Stadt, irrte durch die Gassen, sah Hunde und Wagen, Fußgänger und Reiter, wollte in ein Haus, in dem schön Weihnachten gefeiert wurde, doch man schickte ihn wieder fort, und ein böser Junge stellte ihm ein Bein, und so lief er weg und versteckte sich in einem fremden Hof hinter aufgestapeltem Holz.
Hier finden sie mich nicht; es ist auch dunkel. … Und plötzlich ward ihm so wohl. Hände und Füße schmerzten nicht mehr, und ihm wurde so warm, so warm, wie auf einem Ofen. Da fuhr er zusammen: Ach, bald wäre ich eingeschlafen! Wie schön wäre es, hier einzuschlafen!
Plötzlich sagte eine Stimme über ihm: »Komm mit mir, mein Knabe, zum Christbaum«.
Und er streckt die Hand entgegen, und … plötzlich — oh, wieviel Licht! Oh, was für ein Christbaum! … Wo befindet er sich nur? Alles glänzt, alles leuchtet — und ringsherum lauter Püppchen! Aber nein, es sind lauter kleine Knaben und Mädchen, alle leuchtend, sie drehen sich um ihn, schweben umher, küssen ihn, umfassen ihn, tragen ihn mit sich, jetzt schwebt er selbst und sieht — seine Mutter schaut ihn an und lächelt freudig. »Mutter, Mutter! Ach wie schön ist es hier, Mutter!«
Er erfährt, hier seien die kleinen Kinder bei Christus, die keinen Baum haben und erfroren, erstickt oder vor Schwäche gestorben sind.
Sie alle sind jetzt da, sie alle sind jetzt Engel, alle bei Christus, und Er selbst ist mitten unter ihnen, streckte seine Arme nach ihnen aus und segnete sie und ihre sündigen Mütter.
Der Epilog:
Am nächsten Morgen fanden die Hausknechte hinter dem Holz die kleine Leiche eines hergelaufenen, erfrorenen Knaben; man mache auch seine Mutter ausfindig … Die war noch vor ihm gestorben; beide sahen sich beim Herrgott im Himmel wieder.
Das erinnert an das Märchen Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzchen von H. C. Andersen.
Draußen war es entsetzlich kalt. Es schneite und schneite.
Das kleine Mädchen lief fort, verlor seine Schuhe, lief immer weiter, und niemand wollte seine Schwefelhölzchen kaufen. Es kauerte sich in einer Hausecke nieder und zündete zitternd ein Schwefelhölzchen an. Ihm war, als wäre ein Ofen in ihrer Nähe. Das zweite Hölzchen zeigt ihr einen Weihnachtsabend in einem Haus, und es durfte hineinsehen. Beim dritten Hölzchen saß das Mädchen unter einem herrlichen Christbaum.
Es strich wieder ein Hölzchen an der Mauer an, wieder wurde es hell, und in dem Glanz stand da die alte Großmutter, klar und deutlich, gar mild und liebevoll. »Großmutter!« rief die Kleine. »Oh, nimm mich mit! Ich weiß, du gehst fort, wenn das Schwefelhölzchen erlischt …« Und es zündete schnell das ganze Bündelchen Schwefelhölzchen an, denn es wollte die Großmutter festhalten. Die Schwefelhölzchen leuchteten mit solch einem Glanz, dass es heller wurde als am hellsten Tag. Nie war die Großmutter früher so schön und so groß gewesen. Sie nahm das kleine Mädchen auf ihre Arme, und beide flogen in strahlendem Glanz und stiller Freude von der Erde fort, hoch über die Wolken, unendlich hoch, wo weder Kälte noch Hunger noch Angst sind — sie waren bei Gott.
Epilog:
Die Neujahrssonne schien bleich auf die kleine Leiche. Starr saß das Kind dort mit den Schwefelhölzchen, von denen ein Bund abgebrannt war. »Es hat sich wärmen wollen«, sagte man. Niemand ahnte, was es Schönes gesehen hatte, in welchem Glanz es mit der Großmutter zur Neujahrsfreude eingegangen war.