A Stop at Willoughby
Zur Abrundung und als Abschluss muss noch eine Geschichte her. Sie ist vom Anfang meines Romans Tod am Tiber (2014). Ein Obdachloser ist in seinem Wohnwagen verbrannt, Rudi hat ihn gekannt und ist traurig, und da steht der Wagen der Rechtsmedizin, in den sie dessen Überreste einladen. Einmal habe ich es bei manipogo erwähnt.
Heute Morgen muss ich noch geschlafen haben, als auf dieser Uferseite ein kleines Höllenfeuer ausbrach. Ein Mann schnarchte in seinem Wohnwagen, schlief den Schlaf des Bezechten, als sich Flammen gefräßig ausbreiteten und ihn verzehrten mit seiner kleinen Welt um ihn herum. Und diese kleine Welt steht hinter mir als windschiefe, geschwärzte Hütte auf Felgen bloß noch. Umrahmt ist die Ruine von in Brusthöhe gespannten rot-weißen Absperrbändern der Polizei. Sie müssen den Mann irgendwie aus seiner Schlafkiste gezogen haben, und jetzt liegen seine Überreste in einem Wagen, der in pietätvoller Entfernung parkt.
Ein Mütze tragender Mann im abgetragenem schwarzen Anzug macht sich an der Hecktür zu schaffen. Jedesmal, wenn ich die Heckklappe eines Leichenwagens sehe, denke ich: Willoughby. Wenn das draufstünde, wäre alles in Ordnung. Dann hätte der Bursche seinen Frieden gefunden. Eine Fernsehsendung aus der US-Serie „Twilight Zone” von Rod Serling aus den 1960-er Jahren ist mir nie mehr aus dem Kopf gegangen. In Deutschland hatte sie den Titel „Geschichten, die nicht zu erklären sind”. Zu Beginn rollten Seifenblasen (oder Augen?) zu nervtötender Polizeisirenen-Musik schräg durchs Bild. Dann ging’s los, alles in Schwarz-Weiß.
»A Stop at Willoughby«: Ein Mann im mittleren Alter, gepeinigt vom unzufriedenen Chef und einer zanksüchtigen Frau, fährt jeden Morgen mit dem Zug zur Arbeit, und regelmäßig kommt ein Schaffner und ruft „Willoughby!“. Da steigt der Mann aus, wirft sich das Jackett über die Schulter, plaudert mit kleinen Jungs, geht Fischen, setzt sich an die Sonne. Er lässt sich’s richtig gutgehen.
Dann verliert er seine Arbeit. Er steckt beim Frühstück die üblichen Vorwürfe seiner Frau ein und fährt los. In Willoughby steigt er aus, auch wie üblich, und seine Freunde empfangen ihn. Der Mann wird später gefunden, tief in der Nacht, auf freier Strecke, verkrümmt im Schnee liegend, mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Das Begräbnisinstitut fährt mit seinem Wagen heran, sie laden die Leiche ein, die Hecktür fällt zu, und auf ihr steht: »Willoughby & Son — Funeral Home«. Ende des Films. Auch hier fällt eine Hecktür ins Schloss. Aufschrift: »Medicina legale. Roma.« Die Rechtsmedizin.
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Unsere drei Geschichten — die zwei von gestern und die heutige — haben einiges gemeinsam. Alle drei Protagonisten erfrieren und gehen in die andere Welt, und wir erleben es mit. Die beiden ersten sind Märchen und gaben eine Hoffnung, und mehr war es nicht. Denn das Christentum verordnet die Toten ja zum Schlaf (Ruhe in Frieden), und die Auferstehung ist erst in Äonen vorgesehen. Dostojewski und Andersen starben beide um 1880, waren beide wohl gläubig, und vielleicht haben sie ja etwas aus dem Spiritualismus mitgekriegt.Die Geschwister Fox in Hydesville, Staat New York hatten 1848 Geisterkontakt, und eine Lawine kam ins Rollen. Immer mehr Medien traten auf, und es erschienen die ersten Bücher darüber, wie es im Jenseits wäre.
Als Willoughby herauskam, lag der Spiritualismus international ziemlich darnieder, aber in den USA bewegt sich immer etwas auf religiösem Gebiet. Und nun, heute, angesichts der gewiss hunderttausend Nahtod-Berichte, muss man sagen: Die Märchen sind wahr! Der Schmerz beim Übergang weicht dem Glück, durch das Licht und verstorbene Verwandte empfangen zu werden. Ist das nicht unfassbar schön! (Wie es dann weitergeht, ist eine andere Sache.)
Dass es den Tod nicht gibt und uns ein großes Glück erwartet, ist die beste Nachricht aller Zeiten und Epochen, meine ich. Wenn sie nur aufgegriffen würde! Es wird darüber publiziert, und man kann darüber recherchieren, wenn man mehr wissen will. Das Problem bei der Mehrheit der Bürger ist ein engstirniger Glaube an Wissenschaft und Technik sowie ein dumpfer Skeptizismus, der an Resignation denken lässt. Man ist benebelt von der vermeintlich lebhaften Welt um uns herum, die auf andere auch kalt und herzlos wirkt; man ist verblendet von den Dingen und von sinnlosem Geschwätz.