Ohne Zeiger

Heute fragen wir uns: Weiß jemand, wie spät es ist? Meine Uhr ist kaputt. Es geht ja gut ohne. Aber auf dem Bahnhof wüsste man dennoch gern, wie lang man noch zu warten hat … Aber: Fehlanzeige. 

DSCN4306Es war auf dem Bahnhof von Foligno in Umbrien, dass ich Ausschau hielt nach einer guten alten Bahnhofsuhr. Doch es gab keine. Auch auf den anderen Bahnhöfen (Narni, Terni, Orte) sah ich keine Uhr. Dann, angekommen, wanderte ich durch den Flughafen Fiumicino und schaute überallhin: keine Uhr. Auch da nicht. Ich fragte einen Mitarbeiter; er verwies mich an eine der Anzeigetafeln mit der Liste der Abflüge, da oben, klein, stehe die Zeit. Richtig: 19.05. Auf den Bahnhöfen steht auf dem Monitor mit den Verbindungen auch die Zeit, klein, oben rechts.

Ist das nur in Italien so? Die Digitalisierung hat die Welt unanschaulicher gemacht. Eine Uhr mit Zeigern ist anscheinend etwas Altmodisches. Außerdem hat jeder Smartphone (das war wohl der Hintergedanke: wozu noch eine öffentliche Uhr?), und wenn es eingeschaltet ist, blickt einen sofort die Zeit an: 14.44. Jeder hat die Zeit also bei sich.

Doch an Orten, wo Züge und Flüge abgehen, wo man pünktlich sein muss, wäre da eine große Uhr nicht angemessen, wie es sie immer gab, und unvergesslich, wie W. G. Sebald in seinem Roman Austerlitz die Uhr im Jugendstil-Bahnhof Antwerpen beschrieb:

Tatsächlich befand sich an der Wand …, unter dem Löwenwappen des Belgischen Königreichs, als Hauptstück des Buffetsaals eine mächtige Uhr, an deren einst vergoldetem, jetzt aber von Eisenbahnruß und Tabaksqualm eingeschwärztem Zifferblatt der zirka sechs Fuß messende Zeiger in seiner Runde ging. Während der beim Reden eintretenden Pausen merkten wir beide, wie unendlich lang es dauerte, bis wieder eine Minute verstrichen war, und wie schrecklich uns jedesmal, obgleich wir es doch erwarteten, das Vorrücken dieses, einem Richtschwert gleichenden Zeigers schien, wenn er das nächste Sechzigtel einer Stunde von der Zukunft abtrennte mit einem derart bedrohlichen Nachzittern, dass einem beinahe das Herz aussetzte dabei.  

DSCN4635

 

Die teuren Schweizer Uhren haben noch Zeiger, die um das Zifferblatt rotieren. So sehen wir das Zyklische der Zeit und ihr Vergehen ganz deutlich durch diese stetige Bewegung. Wie riesig die Uhren an den Kirchen Zürichs und Berns waren! Und dann schlugen die Glocken auch noch jede Stunde.

Da fallen mir vage noch ein paar Zeilen ein aus Verona von Peter Huchel:

DSCN4623Es rasselt das Räderwerk im Turm
Und schlägt zu spät die Stunde an.
Die Erde schenkt uns keine Zeit
Über den Tod hinaus.
Ins Gewebe der Nacht genäht
Versinken die Stimmen
Unauffindbar. 

Vielleicht sind wir dabei, im öffentlichen  Bewusstsein auch die Zeit abzudrängen, wie wir schon den Tod ins Abseits gestellt haben; denn die Zeit erinnert uns daran, dass alles begrenzt ist. Die Ziffern sind weniger bedrohlich. Geradezu schön ist 22:22, und dann kommt 00:00 und stellt alles auf Anfang.

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.